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Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

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ermöglicht. Sehr bald, nachdem wir das Wort sprechen gelernt
haben, schwindet die Absicht, nur den Klang zu reproduciren, sie
weicht der Absicht, einen bestimmten Sinn wiederzugeben, d. h.
die realen Sinnesbilder eines Gegenstandes vermögen jetzt die
Bewegungsvorstellung des Wortes direct zu innerviren. Das Ver-
mögen zu sprechen ist also erhalten, aber mit einer gewissen
Einschränkung. Denn beim gewöhnlichen Sprechen scheint, wie
ja aus der Genesis der Sprache leicht begreiflich ist, unbewusst
das Klangbild immer mit innervirt zu werden, gleichsam mit zu
hallueiniren und dadurch eine fortwährende Correctur auf den
Ablauf der Bewegungsvorstellungen auszuüben. Der Taube, bei
welchem nur der Verlauf des Acusticus durchbrochen ist, verfügt
noch vollständig über diese Correctur.

[Abbildung] Fig. 4.

Schematisch lässt sich der Sach-
verhalt, wie folgt, darstellen. Es
sei in der nebenstehenden Figur,
welche mit der oben gegebenen
zu vergleichen ist, c ein mit a1
associirtes Tastbild, d das zuge-
hörige optische Erinnerungsbild.
Der Begriff ist nichts anderes als
die Bahn cd. Das Kind hat zu-
nächst auf der Bahn a1 b spre-
chen gelernt, welche wegen ihrer tausendfältigen Benützung immer
einen bedeutenden Einfluss auf die Auswahl der richtigen Bewe-
gungsvorstellung beibehält. Diese Bahn wird aber später nicht
mehr vorwiegend benützt, sondern es wird der kürzere Weg cb
und db gewählt, und das blosse Bestehen der Bahn a1 b, ohne
intendirte Innervation derselben, genügt schon, um die Auswahl
der richtigen Bewegungsvorstellung zu sichern. Es wirkt dann die
Summe d+c+a1, jedes etwa von gleicher Intensität, zur rich-
tigen Auswahl des Wortes zusammen. Fällt aber a1 aus, so wirkt
nur die Summe d+c innervirend, der mächtige Einfluss der
Bahn a1 b fällt weg.

Abgesehen von dem Mangel an Verständniss hat
der Kranke also noch aphasische Erscheinungen
beim Sprechen, bedingt durch das Fehlen dieser unbe-
wussten von dem Lautbild geübten Correctur.
Sie be-
stehen in dem leichten Verwechseln der Wörter. Der Kranke

ermöglicht. Sehr bald, nachdem wir das Wort sprechen gelernt
haben, schwindet die Absicht, nur den Klang zu reproduciren, sie
weicht der Absicht, einen bestimmten Sinn wiederzugeben, d. h.
die realen Sinnesbilder eines Gegenstandes vermögen jetzt die
Bewegungsvorstellung des Wortes direct zu innerviren. Das Ver-
mögen zu sprechen ist also erhalten, aber mit einer gewissen
Einschränkung. Denn beim gewöhnlichen Sprechen scheint, wie
ja aus der Genesis der Sprache leicht begreiflich ist, unbewusst
das Klangbild immer mit innervirt zu werden, gleichsam mit zu
hallueiniren und dadurch eine fortwährende Correctur auf den
Ablauf der Bewegungsvorstellungen auszuüben. Der Taube, bei
welchem nur der Verlauf des Acusticus durchbrochen ist, verfügt
noch vollständig über diese Correctur.

[Abbildung] Fig. 4.

Schematisch lässt sich der Sach-
verhalt, wie folgt, darstellen. Es
sei in der nebenstehenden Figur,
welche mit der oben gegebenen
zu vergleichen ist, c ein mit a1
associirtes Tastbild, d das zuge-
hörige optische Erinnerungsbild.
Der Begriff ist nichts anderes als
die Bahn cd. Das Kind hat zu-
nächst auf der Bahn a1 b spre-
chen gelernt, welche wegen ihrer tausendfältigen Benützung immer
einen bedeutenden Einfluss auf die Auswahl der richtigen Bewe-
gungsvorstellung beibehält. Diese Bahn wird aber später nicht
mehr vorwiegend benützt, sondern es wird der kürzere Weg cb
und db gewählt, und das blosse Bestehen der Bahn a1 b, ohne
intendirte Innervation derselben, genügt schon, um die Auswahl
der richtigen Bewegungsvorstellung zu sichern. Es wirkt dann die
Summe d+c+a1, jedes etwa von gleicher Intensität, zur rich-
tigen Auswahl des Wortes zusammen. Fällt aber a1 aus, so wirkt
nur die Summe d+c innervirend, der mächtige Einfluss der
Bahn a1 b fällt weg.

Abgesehen von dem Mangel an Verständniss hat
der Kranke also noch aphasische Erscheinungen
beim Sprechen, bedingt durch das Fehlen dieser unbe-
wussten von dem Lautbild geübten Correctur.
Sie be-
stehen in dem leichten Verwechseln der Wörter. Der Kranke

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[23/0027] ermöglicht. Sehr bald, nachdem wir das Wort sprechen gelernt haben, schwindet die Absicht, nur den Klang zu reproduciren, sie weicht der Absicht, einen bestimmten Sinn wiederzugeben, d. h. die realen Sinnesbilder eines Gegenstandes vermögen jetzt die Bewegungsvorstellung des Wortes direct zu innerviren. Das Ver- mögen zu sprechen ist also erhalten, aber mit einer gewissen Einschränkung. Denn beim gewöhnlichen Sprechen scheint, wie ja aus der Genesis der Sprache leicht begreiflich ist, unbewusst das Klangbild immer mit innervirt zu werden, gleichsam mit zu hallueiniren und dadurch eine fortwährende Correctur auf den Ablauf der Bewegungsvorstellungen auszuüben. Der Taube, bei welchem nur der Verlauf des Acusticus durchbrochen ist, verfügt noch vollständig über diese Correctur. [Abbildung Fig. 4.] Schematisch lässt sich der Sach- verhalt, wie folgt, darstellen. Es sei in der nebenstehenden Figur, welche mit der oben gegebenen zu vergleichen ist, c ein mit a1 associirtes Tastbild, d das zuge- hörige optische Erinnerungsbild. Der Begriff ist nichts anderes als die Bahn cd. Das Kind hat zu- nächst auf der Bahn a1 b spre- chen gelernt, welche wegen ihrer tausendfältigen Benützung immer einen bedeutenden Einfluss auf die Auswahl der richtigen Bewe- gungsvorstellung beibehält. Diese Bahn wird aber später nicht mehr vorwiegend benützt, sondern es wird der kürzere Weg cb und db gewählt, und das blosse Bestehen der Bahn a1 b, ohne intendirte Innervation derselben, genügt schon, um die Auswahl der richtigen Bewegungsvorstellung zu sichern. Es wirkt dann die Summe d+c+a1, jedes etwa von gleicher Intensität, zur rich- tigen Auswahl des Wortes zusammen. Fällt aber a1 aus, so wirkt nur die Summe d+c innervirend, der mächtige Einfluss der Bahn a1 b fällt weg. Abgesehen von dem Mangel an Verständniss hat der Kranke also noch aphasische Erscheinungen beim Sprechen, bedingt durch das Fehlen dieser unbe- wussten von dem Lautbild geübten Correctur. Sie be- stehen in dem leichten Verwechseln der Wörter. Der Kranke

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Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/27>, abgerufen am 24.04.2024.