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Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

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ordnungen der Muskelwirkung, bis zur Bildung einsilbiger Wörter,
znnächst reflectorisch, aber vielleicht in einem complicirter ge-
bauten Apparate, dem kleinen Gehirn. Jedoch eignet sich das
kleine Gehirn leider wegen der Unbekanntheit seiner Functionen
nur zu gut zur Ausfüllung jeder Lücke; wir abstrahiren daher
lieber von demselben und gestehen die Schwierigkeit zu, die Ent-
stehung ganzer Wörter durch den reflektorischen Apparat der
Oblongata zu begreifen. Sei es nun, dass ganze Wörter oder nur
Bruchstücke davon reflektorisch in der Oblongata zu Stande
kommen, jedenfalls gelangt von dem Orte des Reflexvorganges
ein Klangbild des Wortes oder der Silbe in einen sensorischen
Theil des Gehirnes, das Innervationsgefühl der ausgeführten Be-
wegung als Sprachbewegungsvorstellung in das motorische Stirn-
hirn. (cf. pag. 8.) Associirt bleiben Klangbild und Bewegungsvorstel-
lung durch irgend welche Markfasern. Vergl. Fig. 2. Geschieht
später die spontane Bewegung, das bewusst ausgesprochene Wort,
so ist von dem Erinnerungsbilde des Klanges aus die associirte
Bewegungsvorstellung innervirt worden.

Der Innervationsact pflanzt sich nun in der Bahn des Hirn-
schenkelfusses, wie alle übrigen willkürlichen Bewegungen, bis zu
den beim Sprechact functionirenden Muskeln fort.

Bevor wir dieser aus der gegebenen Entwickelung resulti-
renden Auffassung des Sprachvorganges eine anatomische Grund-
lage geben können, müssen wir einen Rückblick auf die bisher
gemachten Versuche werfen, ein eigenes Sprachcentrum auf be-
stimmte anatomische Gebiete des Gehirnes zu localisiren.

Ich übergehe die schon vielfach in ausführlichen Referaten
zusammengestellten älteren Arbeiten über diesen Gegenstand und
wende mich bald zu Broca, demjenigen Autor, welcher zuerst von
grösseren Gebieten der Gehirnoberfläche Abstand nahm und ein
sehr umschriebenes, anatomisch bestimmt abgegrenztes Sprach-
centrum aufzustellen wagte. Bekanntlich verlegte er den Sitz des
Sprachvermögens an das hintere Ende der sogenannten 3., eigent-
lich nach Leuret's Principien, welcher von der Fossa Sylvii aus
zählt, 1. Stirnwindung, also den Theil der untersten (zugleich
äussersten) Windung des Klappdeckels, welcher vor ihrer Ein-
mündungsstelle in die vordere Centralwindung gelegen ist. Trotz
der Opposition, welche sich gegen diese Ansicht von vornherein
geltend machte, wurden doch bald so viele übereinstimmende
Fälle von Sprachstörungen veröffentlicht, und die nicht überein-

ordnungen der Muskelwirkung, bis zur Bildung einsilbiger Wörter,
znnächst reflectorisch, aber vielleicht in einem complicirter ge-
bauten Apparate, dem kleinen Gehirn. Jedoch eignet sich das
kleine Gehirn leider wegen der Unbekanntheit seiner Functionen
nur zu gut zur Ausfüllung jeder Lücke; wir abstrahiren daher
lieber von demselben und gestehen die Schwierigkeit zu, die Ent-
stehung ganzer Wörter durch den reflektorischen Apparat der
Oblongata zu begreifen. Sei es nun, dass ganze Wörter oder nur
Bruchstücke davon reflektorisch in der Oblongata zu Stande
kommen, jedenfalls gelangt von dem Orte des Reflexvorganges
ein Klangbild des Wortes oder der Silbe in einen sensorischen
Theil des Gehirnes, das Innervationsgefühl der ausgeführten Be-
wegung als Sprachbewegungsvorstellung in das motorische Stirn-
hirn. (cf. pag. 8.) Associirt bleiben Klangbild und Bewegungsvorstel-
lung durch irgend welche Markfasern. Vergl. Fig. 2. Geschieht
später die spontane Bewegung, das bewusst ausgesprochene Wort,
so ist von dem Erinnerungsbilde des Klanges aus die associirte
Bewegungsvorstellung innervirt worden.

Der Innervationsact pflanzt sich nun in der Bahn des Hirn-
schenkelfusses, wie alle übrigen willkürlichen Bewegungen, bis zu
den beim Sprechact functionirenden Muskeln fort.

Bevor wir dieser aus der gegebenen Entwickelung resulti-
renden Auffassung des Sprachvorganges eine anatomische Grund-
lage geben können, müssen wir einen Rückblick auf die bisher
gemachten Versuche werfen, ein eigenes Sprachcentrum auf be-
stimmte anatomische Gebiete des Gehirnes zu localisiren.

Ich übergehe die schon vielfach in ausführlichen Referaten
zusammengestellten älteren Arbeiten über diesen Gegenstand und
wende mich bald zu Broca, demjenigen Autor, welcher zuerst von
grösseren Gebieten der Gehirnoberfläche Abstand nahm und ein
sehr umschriebenes, anatomisch bestimmt abgegrenztes Sprach-
centrum aufzustellen wagte. Bekanntlich verlegte er den Sitz des
Sprachvermögens an das hintere Ende der sogenannten 3., eigent-
lich nach Leuret’s Principien, welcher von der Fossa Sylvii aus
zählt, 1. Stirnwindung, also den Theil der untersten (zugleich
äussersten) Windung des Klappdeckels, welcher vor ihrer Ein-
mündungsstelle in die vordere Centralwindung gelegen ist. Trotz
der Opposition, welche sich gegen diese Ansicht von vornherein
geltend machte, wurden doch bald so viele übereinstimmende
Fälle von Sprachstörungen veröffentlicht, und die nicht überein-

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[14/0018] ordnungen der Muskelwirkung, bis zur Bildung einsilbiger Wörter, znnächst reflectorisch, aber vielleicht in einem complicirter ge- bauten Apparate, dem kleinen Gehirn. Jedoch eignet sich das kleine Gehirn leider wegen der Unbekanntheit seiner Functionen nur zu gut zur Ausfüllung jeder Lücke; wir abstrahiren daher lieber von demselben und gestehen die Schwierigkeit zu, die Ent- stehung ganzer Wörter durch den reflektorischen Apparat der Oblongata zu begreifen. Sei es nun, dass ganze Wörter oder nur Bruchstücke davon reflektorisch in der Oblongata zu Stande kommen, jedenfalls gelangt von dem Orte des Reflexvorganges ein Klangbild des Wortes oder der Silbe in einen sensorischen Theil des Gehirnes, das Innervationsgefühl der ausgeführten Be- wegung als Sprachbewegungsvorstellung in das motorische Stirn- hirn. (cf. pag. 8.) Associirt bleiben Klangbild und Bewegungsvorstel- lung durch irgend welche Markfasern. Vergl. Fig. 2. Geschieht später die spontane Bewegung, das bewusst ausgesprochene Wort, so ist von dem Erinnerungsbilde des Klanges aus die associirte Bewegungsvorstellung innervirt worden. Der Innervationsact pflanzt sich nun in der Bahn des Hirn- schenkelfusses, wie alle übrigen willkürlichen Bewegungen, bis zu den beim Sprechact functionirenden Muskeln fort. Bevor wir dieser aus der gegebenen Entwickelung resulti- renden Auffassung des Sprachvorganges eine anatomische Grund- lage geben können, müssen wir einen Rückblick auf die bisher gemachten Versuche werfen, ein eigenes Sprachcentrum auf be- stimmte anatomische Gebiete des Gehirnes zu localisiren. Ich übergehe die schon vielfach in ausführlichen Referaten zusammengestellten älteren Arbeiten über diesen Gegenstand und wende mich bald zu Broca, demjenigen Autor, welcher zuerst von grösseren Gebieten der Gehirnoberfläche Abstand nahm und ein sehr umschriebenes, anatomisch bestimmt abgegrenztes Sprach- centrum aufzustellen wagte. Bekanntlich verlegte er den Sitz des Sprachvermögens an das hintere Ende der sogenannten 3., eigent- lich nach Leuret’s Principien, welcher von der Fossa Sylvii aus zählt, 1. Stirnwindung, also den Theil der untersten (zugleich äussersten) Windung des Klappdeckels, welcher vor ihrer Ein- mündungsstelle in die vordere Centralwindung gelegen ist. Trotz der Opposition, welche sich gegen diese Ansicht von vornherein geltend machte, wurden doch bald so viele übereinstimmende Fälle von Sprachstörungen veröffentlicht, und die nicht überein-

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Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/18>, abgerufen am 29.03.2024.