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Weismann, August: Die Allmacht der Naturzüchtung. Eine Erwiderung an Herbert Spencer. Jena, 1893.

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Es ist nicht zum ersten Male, dass der berühmte Philo-
soph gerade diese Erscheinung gegen meine Ansichten ins
Feld führt, er hat schon vor 7 Jahren einen Aufsatz 1) er-
scheinen lassen, der im Wesentlichen dieselben Argumente
geltend macht, und ich hätte gern schon damals darauf ge-
antwortet, wäre ich nicht durch die Verfolgung anderer
Probleme daran gehindert gewesen.

Der Gedankengang Herbert Spencer's ist, kurz
zusammengefasst, der folgende. Wenn eine Vererbung er-
worbener Abänderungen nicht bestünde, so müsste alle
dauernde Veränderung auf Naturzüchtung beruhen. Nun
müssen aber die meisten nützlichen Veränderungen eines
Theils mit Veränderungen anderer Theile verbunden sein,
wenn sie überhaupt wirksam werden sollen, und dieser co-
operativen Veränderungen sind häufig eine so grosse Zahl,
dass man nicht einsieht, wie sie alle zu gleicher Zeit und
unabhängig von einander durch spontane Variation und
Naturzüchtung sollten entstehen können. Man kann nicht
annehmen, dass sie alle stets in gleichem Sinne variiren,
so dass z. B. die Vergrösserung des Geweihes beim Hirsch
immer schon von selbst mit einer Verdickung der Schädel-
wand, einer Verstärkung des Nackenbandes und der Hals-
und Rückenmuskeln verbunden sein müsse, denn wir kennen
zahlreiche Beispiele, welche beweisen, dass cooperirende
Theile ganz verschieden, ja entgegengesetzt variirt haben.
Wie könnten sonst die enormen Unterschiede zwischen den
Hinter- und Vorderfüssen des Känguruhs, oder wie könnten
die mächtigen Scheeren des Hummers an denselben Bein-
paaren entstanden sein, welche bei der Languste eine ein-

1) "Die Faktoren der organischen Entwickelung", in Kos-
mos 1886, p. 241.

Es ist nicht zum ersten Male, dass der berühmte Philo-
soph gerade diese Erscheinung gegen meine Ansichten ins
Feld führt, er hat schon vor 7 Jahren einen Aufsatz 1) er-
scheinen lassen, der im Wesentlichen dieselben Argumente
geltend macht, und ich hätte gern schon damals darauf ge-
antwortet, wäre ich nicht durch die Verfolgung anderer
Probleme daran gehindert gewesen.

Der Gedankengang Herbert Spencer’s ist, kurz
zusammengefasst, der folgende. Wenn eine Vererbung er-
worbener Abänderungen nicht bestünde, so müsste alle
dauernde Veränderung auf Naturzüchtung beruhen. Nun
müssen aber die meisten nützlichen Veränderungen eines
Theils mit Veränderungen anderer Theile verbunden sein,
wenn sie überhaupt wirksam werden sollen, und dieser co-
operativen Veränderungen sind häufig eine so grosse Zahl,
dass man nicht einsieht, wie sie alle zu gleicher Zeit und
unabhängig von einander durch spontane Variation und
Naturzüchtung sollten entstehen können. Man kann nicht
annehmen, dass sie alle stets in gleichem Sinne variiren,
so dass z. B. die Vergrösserung des Geweihes beim Hirsch
immer schon von selbst mit einer Verdickung der Schädel-
wand, einer Verstärkung des Nackenbandes und der Hals-
und Rückenmuskeln verbunden sein müsse, denn wir kennen
zahlreiche Beispiele, welche beweisen, dass cooperirende
Theile ganz verschieden, ja entgegengesetzt variirt haben.
Wie könnten sonst die enormen Unterschiede zwischen den
Hinter- und Vorderfüssen des Känguruhs, oder wie könnten
die mächtigen Scheeren des Hummers an denselben Bein-
paaren entstanden sein, welche bei der Languste eine ein-

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[11/0023] Es ist nicht zum ersten Male, dass der berühmte Philo- soph gerade diese Erscheinung gegen meine Ansichten ins Feld führt, er hat schon vor 7 Jahren einen Aufsatz 1) er- scheinen lassen, der im Wesentlichen dieselben Argumente geltend macht, und ich hätte gern schon damals darauf ge- antwortet, wäre ich nicht durch die Verfolgung anderer Probleme daran gehindert gewesen. Der Gedankengang Herbert Spencer’s ist, kurz zusammengefasst, der folgende. Wenn eine Vererbung er- worbener Abänderungen nicht bestünde, so müsste alle dauernde Veränderung auf Naturzüchtung beruhen. Nun müssen aber die meisten nützlichen Veränderungen eines Theils mit Veränderungen anderer Theile verbunden sein, wenn sie überhaupt wirksam werden sollen, und dieser co- operativen Veränderungen sind häufig eine so grosse Zahl, dass man nicht einsieht, wie sie alle zu gleicher Zeit und unabhängig von einander durch spontane Variation und Naturzüchtung sollten entstehen können. Man kann nicht annehmen, dass sie alle stets in gleichem Sinne variiren, so dass z. B. die Vergrösserung des Geweihes beim Hirsch immer schon von selbst mit einer Verdickung der Schädel- wand, einer Verstärkung des Nackenbandes und der Hals- und Rückenmuskeln verbunden sein müsse, denn wir kennen zahlreiche Beispiele, welche beweisen, dass cooperirende Theile ganz verschieden, ja entgegengesetzt variirt haben. Wie könnten sonst die enormen Unterschiede zwischen den Hinter- und Vorderfüssen des Känguruhs, oder wie könnten die mächtigen Scheeren des Hummers an denselben Bein- paaren entstanden sein, welche bei der Languste eine ein- 1) „Die Faktoren der organischen Entwickelung“, in Kos- mos 1886, p. 241.

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Zitationshilfe: Weismann, August: Die Allmacht der Naturzüchtung. Eine Erwiderung an Herbert Spencer. Jena, 1893, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_naturzuechtung_1893/23>, abgerufen am 25.04.2024.