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Weismann, August: Die Allmacht der Naturzüchtung. Eine Erwiderung an Herbert Spencer. Jena, 1893.

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aber auch diese Frage, weil die barfussgehenden Japaner
und Neger dieselbe Verschmelzung der Phalangen auf-
weisen.

Auf meine Veranlassung hatte Professor Wieders-
heim
die Güte, die kleinen Zehen einiger ägyptischer Mu-
mien zu untersuchen, und es ergab sich, dass auch bei diesen
die Verwachsung der Phalangen häufig vorkommt und zwar
nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch schon bei Kin-
dern 1).

So verhält sich also die Sache ähnlich, wie bei der
Rückbildung des Schwanzes bei Hund und Katze, die auch
den Anlass zu der irrigen Vorstellung gegeben hat, als be-
ruhe sie auf der Vererbung künstlicher Verstümmelung.
Beiderlei Organe befinden sich in einer sehr langsam vor-
schreitenden Rückbildung, deren Erklärung bei der kleinen
Zehe noch weniger Schwierigkeiten begegnen dürfte, als bei
dem Schwanz des domesticirten Hundes, denn die Physio-
logie hat längst nachgewiesen, dass die kleine Zehe beim
Gehen keine oder nur eine ganz untergeordnete Rolle spielt,
dass sie also -- wenigstens in ihrer vollen ursprünglichen
Ausbildung, wie sie heute noch bei den höchsten Affen ent-
wickelt ist -- überflüssig ist. Ueberflüssige Theile aber
stehen nicht mehr unter Controlle der Naturzüchtung, wer-
den nicht mehr auf der Höhe ihrer Ausbildung erhalten,
sondern sinken langsam durch Panmixie von ihr herab.
Die erbliche Verkümmerung der kleinen Zehe erklärt sich
also von meinem Standpunkt aus ganz einfach.

1) Wiedersheim, "Der Bau des Menschen als Zeug-
niss für seine Vergangenheit", 2. Auflage, Freiburg i. Br. u.
Leipzig 1893, p. 77.

aber auch diese Frage, weil die barfussgehenden Japaner
und Neger dieselbe Verschmelzung der Phalangen auf-
weisen.

Auf meine Veranlassung hatte Professor Wieders-
heim
die Güte, die kleinen Zehen einiger ägyptischer Mu-
mien zu untersuchen, und es ergab sich, dass auch bei diesen
die Verwachsung der Phalangen häufig vorkommt und zwar
nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch schon bei Kin-
dern 1).

So verhält sich also die Sache ähnlich, wie bei der
Rückbildung des Schwanzes bei Hund und Katze, die auch
den Anlass zu der irrigen Vorstellung gegeben hat, als be-
ruhe sie auf der Vererbung künstlicher Verstümmelung.
Beiderlei Organe befinden sich in einer sehr langsam vor-
schreitenden Rückbildung, deren Erklärung bei der kleinen
Zehe noch weniger Schwierigkeiten begegnen dürfte, als bei
dem Schwanz des domesticirten Hundes, denn die Physio-
logie hat längst nachgewiesen, dass die kleine Zehe beim
Gehen keine oder nur eine ganz untergeordnete Rolle spielt,
dass sie also — wenigstens in ihrer vollen ursprünglichen
Ausbildung, wie sie heute noch bei den höchsten Affen ent-
wickelt ist — überflüssig ist. Ueberflüssige Theile aber
stehen nicht mehr unter Controlle der Naturzüchtung, wer-
den nicht mehr auf der Höhe ihrer Ausbildung erhalten,
sondern sinken langsam durch Panmixie von ihr herab.
Die erbliche Verkümmerung der kleinen Zehe erklärt sich
also von meinem Standpunkt aus ganz einfach.

1) Wiedersheim, „Der Bau des Menschen als Zeug-
niss für seine Vergangenheit“, 2. Auflage, Freiburg i. Br. u.
Leipzig 1893, p. 77.
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[9/0021] aber auch diese Frage, weil die barfussgehenden Japaner und Neger dieselbe Verschmelzung der Phalangen auf- weisen. Auf meine Veranlassung hatte Professor Wieders- heim die Güte, die kleinen Zehen einiger ägyptischer Mu- mien zu untersuchen, und es ergab sich, dass auch bei diesen die Verwachsung der Phalangen häufig vorkommt und zwar nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch schon bei Kin- dern 1). So verhält sich also die Sache ähnlich, wie bei der Rückbildung des Schwanzes bei Hund und Katze, die auch den Anlass zu der irrigen Vorstellung gegeben hat, als be- ruhe sie auf der Vererbung künstlicher Verstümmelung. Beiderlei Organe befinden sich in einer sehr langsam vor- schreitenden Rückbildung, deren Erklärung bei der kleinen Zehe noch weniger Schwierigkeiten begegnen dürfte, als bei dem Schwanz des domesticirten Hundes, denn die Physio- logie hat längst nachgewiesen, dass die kleine Zehe beim Gehen keine oder nur eine ganz untergeordnete Rolle spielt, dass sie also — wenigstens in ihrer vollen ursprünglichen Ausbildung, wie sie heute noch bei den höchsten Affen ent- wickelt ist — überflüssig ist. Ueberflüssige Theile aber stehen nicht mehr unter Controlle der Naturzüchtung, wer- den nicht mehr auf der Höhe ihrer Ausbildung erhalten, sondern sinken langsam durch Panmixie von ihr herab. Die erbliche Verkümmerung der kleinen Zehe erklärt sich also von meinem Standpunkt aus ganz einfach. 1) Wiedersheim, „Der Bau des Menschen als Zeug- niss für seine Vergangenheit“, 2. Auflage, Freiburg i. Br. u. Leipzig 1893, p. 77.

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Zitationshilfe: Weismann, August: Die Allmacht der Naturzüchtung. Eine Erwiderung an Herbert Spencer. Jena, 1893, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_naturzuechtung_1893/21>, abgerufen am 25.04.2024.