Es geht hier, wie bei fast allen physiologischen Vorgängen: Die Forschung kann nicht den regulären Weg vom Einfachen zum Verwickelten gehen, unbekümmert darum, welche Objekte und Vorgänge ihr dabei zuerst entgegentreten; sie muss viel- mehr auf den dicht verwachsenen, geraden Weg verzichten und die Dornenhecke umkreisen, welche das verzauberte Schloss des Naturgeheimnisses umgiebt, um zu sehen, ob nicht irgendwo eine Lücke geblieben ist, durch welche sie eindringen und innerhalb festen Fuss fassen kann.
Eine solche Lücke in der Dornenhecke, welche das Ge- heimniss der Vererbung einschliesst, dürfen wir in dem Be- fruchtungsvorgang sehen, wenn wir ihn zusammenhalten mit den Thatsachen der Vererbung, wie wir sie bei den Organismen mit geschlechtlicher Fortpflanzung beobachten.
Solange man noch in der irrigen Vorstellung befangen war, die Befruchtung des Eies durch den Samen beruhe auf einer Aura seminalis, welche dem Ei den Anstoss zu seiner Entwickelung ertheile, konnte man die Vererbungsthatsache, dass nicht nur die Mutter, sondern auch der Vater seine Eigen- schaften auf die Kinder übertragen könne, nur dadurch halb- wegs verständlich machen, dass man einen Spiritus Rector an- nahm, der in der Aura seminalis enthalten sich auf das Ei übertrug und dort mit dem im Ei schon enthaltenen vereinigte, um gemeinsam die Entwickelung zu leiten. Erst die Ent- deckung, dass materielle Substanztheilchen des Samens die Be- fruchtung bewirken, die Samenzellen, welche ins Ei eindringen, eröffnete einer richtigeren Auffassung die Bahn. Heute wissen wir, dass die Befruchtung nichts Anderes ist, als die theilweise oder völlige Verschmelzung zweier Zellen, der Samenzelle und der Eizelle, und dass normalerweise stets nur eine Samenzelle sich mit einer Eizelle vereinigt. Demnach beruht die Be- fruchtung in der Vereinigung zweier protoplasmatischer Sub-
Es geht hier, wie bei fast allen physiologischen Vorgängen: Die Forschung kann nicht den regulären Weg vom Einfachen zum Verwickelten gehen, unbekümmert darum, welche Objekte und Vorgänge ihr dabei zuerst entgegentreten; sie muss viel- mehr auf den dicht verwachsenen, geraden Weg verzichten und die Dornenhecke umkreisen, welche das verzauberte Schloss des Naturgeheimnisses umgiebt, um zu sehen, ob nicht irgendwo eine Lücke geblieben ist, durch welche sie eindringen und innerhalb festen Fuss fassen kann.
Eine solche Lücke in der Dornenhecke, welche das Ge- heimniss der Vererbung einschliesst, dürfen wir in dem Be- fruchtungsvorgang sehen, wenn wir ihn zusammenhalten mit den Thatsachen der Vererbung, wie wir sie bei den Organismen mit geschlechtlicher Fortpflanzung beobachten.
Solange man noch in der irrigen Vorstellung befangen war, die Befruchtung des Eies durch den Samen beruhe auf einer Aura seminalis, welche dem Ei den Anstoss zu seiner Entwickelung ertheile, konnte man die Vererbungsthatsache, dass nicht nur die Mutter, sondern auch der Vater seine Eigen- schaften auf die Kinder übertragen könne, nur dadurch halb- wegs verständlich machen, dass man einen Spiritus Rector an- nahm, der in der Aura seminalis enthalten sich auf das Ei übertrug und dort mit dem im Ei schon enthaltenen vereinigte, um gemeinsam die Entwickelung zu leiten. Erst die Ent- deckung, dass materielle Substanztheilchen des Samens die Be- fruchtung bewirken, die Samenzellen, welche ins Ei eindringen, eröffnete einer richtigeren Auffassung die Bahn. Heute wissen wir, dass die Befruchtung nichts Anderes ist, als die theilweise oder völlige Verschmelzung zweier Zellen, der Samenzelle und der Eizelle, und dass normalerweise stets nur eine Samenzelle sich mit einer Eizelle vereinigt. Demnach beruht die Be- fruchtung in der Vereinigung zweier protoplasmatischer Sub-
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Es geht hier, wie bei fast allen physiologischen Vorgängen:
Die Forschung kann nicht den regulären Weg vom Einfachen
zum Verwickelten gehen, unbekümmert darum, welche Objekte
und Vorgänge ihr dabei zuerst entgegentreten; sie muss viel-
mehr auf den dicht verwachsenen, geraden Weg verzichten und
die Dornenhecke umkreisen, welche das verzauberte Schloss des
Naturgeheimnisses umgiebt, um zu sehen, ob nicht irgendwo
eine Lücke geblieben ist, durch welche sie eindringen und
innerhalb festen Fuss fassen kann.
Eine solche Lücke in der Dornenhecke, welche das Ge-
heimniss der Vererbung einschliesst, dürfen wir in dem Be-
fruchtungsvorgang sehen, wenn wir ihn zusammenhalten mit
den Thatsachen der Vererbung, wie wir sie bei den Organismen
mit geschlechtlicher Fortpflanzung beobachten.
Solange man noch in der irrigen Vorstellung befangen
war, die Befruchtung des Eies durch den Samen beruhe auf
einer Aura seminalis, welche dem Ei den Anstoss zu seiner
Entwickelung ertheile, konnte man die Vererbungsthatsache,
dass nicht nur die Mutter, sondern auch der Vater seine Eigen-
schaften auf die Kinder übertragen könne, nur dadurch halb-
wegs verständlich machen, dass man einen Spiritus Rector an-
nahm, der in der Aura seminalis enthalten sich auf das Ei
übertrug und dort mit dem im Ei schon enthaltenen vereinigte,
um gemeinsam die Entwickelung zu leiten. Erst die Ent-
deckung, dass materielle Substanztheilchen des Samens die Be-
fruchtung bewirken, die Samenzellen, welche ins Ei eindringen,
eröffnete einer richtigeren Auffassung die Bahn. Heute wissen
wir, dass die Befruchtung nichts Anderes ist, als die theilweise
oder völlige Verschmelzung zweier Zellen, der Samenzelle und
der Eizelle, und dass normalerweise stets nur eine Samenzelle
sich mit einer Eizelle vereinigt. Demnach beruht die Be-
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Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892/54>, abgerufen am 22.11.2024.
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