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Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892.

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ist; ich meine die Verlust-Wahrscheinlichkeit. Selten wird einem
Vogel der Flügel verstümmelt, ohne dass er nicht zugleich das
Leben einbüsst, wenigstens im Naturleben. Schon aus diesem
Grunde also würden Selectionsprocesse, die auf einen Regene-
rations-Mechanismus gerichtet wären, hier nicht eingeleitet
werden können. Ich habe auch den ganzen Fall nicht deshalb
hier vorgebracht, um gerade für ihn einen solchen Beweis zu
führen, sondern deshalb, weil er mir besonders geeignet erschien,
anschaulich zu machen, wie ausserordentlich die Complicirtheit
des Regenerations-Mechanismus wachsen muss mit der grösseren
Complicirtheit des Theiles. Diese Einsicht aber führt nun wieder
zurück zu der oben schon aufgeworfenen Frage von der all-
gemeinen Regenerationskraft der niederen gegenüber
den höheren Thiergruppen
.

Ich glaube, dass in gewissem Sinne eine solche zugegeben
werden darf, in dem Sinne nämlich, dass vermöge der einer
niederen Thiergruppe zukommenden geringeren Complication
des Baues aller ihrer Theile irgend ein bestimmter Theil
auch leichter regenerationsfähig gemacht werden kann, als bei
höheren Thiergruppen. Dabei ist aber immer vorausgesetzt,
dass die beiden anderen Faktoren, die Verlust-Wahrscheinlichkeit
und die biologische Wichtigkeit des Organs in dem erforder-
lichen Grade vorhanden sind, so dass diese "höhere Reproduktions-
kraft niederer Thiertypen" im Grunde nichts ist, als ein anderer
Ausdruck für den oben festgestellten dritten Faktor: die Com-
plicirtheit des zu regenerirenden Organs.

Es fragt sich aber, ob wirklich das Regenerationsvermögen
jeglichen Theiles das Resultat besonderer Anpassungsvorgänge
ist, ob nicht doch Regeneration als blosser gewissermassen nicht
vorgesehener Ausfluss der physischen Beschaffenheit eines Thieres
vorkommt. Es liegen Angaben vor, die kaum eine andere
Deutung zuzulassen scheinen. So regenerirt sich nach Spallan-

ist; ich meine die Verlust-Wahrscheinlichkeit. Selten wird einem
Vogel der Flügel verstümmelt, ohne dass er nicht zugleich das
Leben einbüsst, wenigstens im Naturleben. Schon aus diesem
Grunde also würden Selectionsprocesse, die auf einen Regene-
rations-Mechanismus gerichtet wären, hier nicht eingeleitet
werden können. Ich habe auch den ganzen Fall nicht deshalb
hier vorgebracht, um gerade für ihn einen solchen Beweis zu
führen, sondern deshalb, weil er mir besonders geeignet erschien,
anschaulich zu machen, wie ausserordentlich die Complicirtheit
des Regenerations-Mechanismus wachsen muss mit der grösseren
Complicirtheit des Theiles. Diese Einsicht aber führt nun wieder
zurück zu der oben schon aufgeworfenen Frage von der all-
gemeinen Regenerationskraft der niederen gegenüber
den höheren Thiergruppen
.

Ich glaube, dass in gewissem Sinne eine solche zugegeben
werden darf, in dem Sinne nämlich, dass vermöge der einer
niederen Thiergruppe zukommenden geringeren Complication
des Baues aller ihrer Theile irgend ein bestimmter Theil
auch leichter regenerationsfähig gemacht werden kann, als bei
höheren Thiergruppen. Dabei ist aber immer vorausgesetzt,
dass die beiden anderen Faktoren, die Verlust-Wahrscheinlichkeit
und die biologische Wichtigkeit des Organs in dem erforder-
lichen Grade vorhanden sind, so dass diese „höhere Reproduktions-
kraft niederer Thiertypen“ im Grunde nichts ist, als ein anderer
Ausdruck für den oben festgestellten dritten Faktor: die Com-
plicirtheit des zu regenerirenden Organs.

Es fragt sich aber, ob wirklich das Regenerationsvermögen
jeglichen Theiles das Resultat besonderer Anpassungsvorgänge
ist, ob nicht doch Regeneration als blosser gewissermassen nicht
vorgesehener Ausfluss der physischen Beschaffenheit eines Thieres
vorkommt. Es liegen Angaben vor, die kaum eine andere
Deutung zuzulassen scheinen. So regenerirt sich nach Spallan-

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[166/0190] ist; ich meine die Verlust-Wahrscheinlichkeit. Selten wird einem Vogel der Flügel verstümmelt, ohne dass er nicht zugleich das Leben einbüsst, wenigstens im Naturleben. Schon aus diesem Grunde also würden Selectionsprocesse, die auf einen Regene- rations-Mechanismus gerichtet wären, hier nicht eingeleitet werden können. Ich habe auch den ganzen Fall nicht deshalb hier vorgebracht, um gerade für ihn einen solchen Beweis zu führen, sondern deshalb, weil er mir besonders geeignet erschien, anschaulich zu machen, wie ausserordentlich die Complicirtheit des Regenerations-Mechanismus wachsen muss mit der grösseren Complicirtheit des Theiles. Diese Einsicht aber führt nun wieder zurück zu der oben schon aufgeworfenen Frage von der all- gemeinen Regenerationskraft der niederen gegenüber den höheren Thiergruppen. Ich glaube, dass in gewissem Sinne eine solche zugegeben werden darf, in dem Sinne nämlich, dass vermöge der einer niederen Thiergruppe zukommenden geringeren Complication des Baues aller ihrer Theile irgend ein bestimmter Theil auch leichter regenerationsfähig gemacht werden kann, als bei höheren Thiergruppen. Dabei ist aber immer vorausgesetzt, dass die beiden anderen Faktoren, die Verlust-Wahrscheinlichkeit und die biologische Wichtigkeit des Organs in dem erforder- lichen Grade vorhanden sind, so dass diese „höhere Reproduktions- kraft niederer Thiertypen“ im Grunde nichts ist, als ein anderer Ausdruck für den oben festgestellten dritten Faktor: die Com- plicirtheit des zu regenerirenden Organs. Es fragt sich aber, ob wirklich das Regenerationsvermögen jeglichen Theiles das Resultat besonderer Anpassungsvorgänge ist, ob nicht doch Regeneration als blosser gewissermassen nicht vorgesehener Ausfluss der physischen Beschaffenheit eines Thieres vorkommt. Es liegen Angaben vor, die kaum eine andere Deutung zuzulassen scheinen. So regenerirt sich nach Spallan-

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Zitationshilfe: Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892/190>, abgerufen am 27.04.2024.