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Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892.

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Menschen dagegen sind nicht nur homologe Theile, sondern auch
von nahezu gleicher biologischer Bedeutung; ihre Regenerations-
kraft aber ist sehr ungleich, und es fragt sich also, worauf diese
Ungleichheit beruht.

Die Regenerationskraft irgend eines Theils wird niemals
blos von den Verhältnissen abhängen, welche gerade für die
ins Auge gefasste Thierart massgebend sind, sondern auch von
den Regenerationseinrichtungen, welche schon in der Vorfahren-
reihe dieser Art vorhanden und auf sie durch Vererbung über-
tragen wurden. Sehen wir aber einmal davon ab und betrachten
die Regenerationskraft als nur auf Anpassung des einzelnen
Falles beruhend, so wird man etwa in folgender Weise schliessen.
Ob die Ausrüstung der Zellen eines Theils mit Ersatz-Determi-
nanten behufs seiner Regenerationsfähigkeit eingerichtet wird
oder nicht, hängt in erster Linie davon ab, ob der betreffende
Theil überhaupt von häufigerem Verlust bedroht ist, also von
der Höhe der Verlust-Wahrscheinlichkeit desselben. Für
selten eintretende Verluste kann nicht Vorsorge getroffen werden,
selbst wenn dieselben von grossem biologischen Nachtheil wären,
weil die Einbusse an Individuenzahl, welche die Art etwa da-
durch erleiden könnte, verschwindend klein wäre. Für das be-
troffene Individuum kann ein solcher Verlust von grossem Nach-
theil sein, nicht aber für die Art; Selectionsprocesse können
also durch ihn nicht in Gang gesetzt werden.

In zweiter Linie muss es die physiologische oder bio-
logische Bedeutung des Organs
selbst sein, welche in Be-
tracht kommt. Ein rudimentärer, fast oder ganz bedeutungslos
gewordener Theil wird häufig verstümmelt oder abgerissen werden
können, ohne dass daraus Selectionsprocesse hervorgehen, die
dessen Regenerationsfähigkeit bezwecken. So ersetzen sich z. B.,
soviel bekannt ist, die häufig abgebissenen schwachen Beine von
Siren oder Proteus nicht, wohl aber die ebenso häufig abgefressenen

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Menschen dagegen sind nicht nur homologe Theile, sondern auch
von nahezu gleicher biologischer Bedeutung; ihre Regenerations-
kraft aber ist sehr ungleich, und es fragt sich also, worauf diese
Ungleichheit beruht.

Die Regenerationskraft irgend eines Theils wird niemals
blos von den Verhältnissen abhängen, welche gerade für die
ins Auge gefasste Thierart massgebend sind, sondern auch von
den Regenerationseinrichtungen, welche schon in der Vorfahren-
reihe dieser Art vorhanden und auf sie durch Vererbung über-
tragen wurden. Sehen wir aber einmal davon ab und betrachten
die Regenerationskraft als nur auf Anpassung des einzelnen
Falles beruhend, so wird man etwa in folgender Weise schliessen.
Ob die Ausrüstung der Zellen eines Theils mit Ersatz-Determi-
nanten behufs seiner Regenerationsfähigkeit eingerichtet wird
oder nicht, hängt in erster Linie davon ab, ob der betreffende
Theil überhaupt von häufigerem Verlust bedroht ist, also von
der Höhe der Verlust-Wahrscheinlichkeit desselben. Für
selten eintretende Verluste kann nicht Vorsorge getroffen werden,
selbst wenn dieselben von grossem biologischen Nachtheil wären,
weil die Einbusse an Individuenzahl, welche die Art etwa da-
durch erleiden könnte, verschwindend klein wäre. Für das be-
troffene Individuum kann ein solcher Verlust von grossem Nach-
theil sein, nicht aber für die Art; Selectionsprocesse können
also durch ihn nicht in Gang gesetzt werden.

In zweiter Linie muss es die physiologische oder bio-
logische Bedeutung des Organs
selbst sein, welche in Be-
tracht kommt. Ein rudimentärer, fast oder ganz bedeutungslos
gewordener Theil wird häufig verstümmelt oder abgerissen werden
können, ohne dass daraus Selectionsprocesse hervorgehen, die
dessen Regenerationsfähigkeit bezwecken. So ersetzen sich z. B.,
soviel bekannt ist, die häufig abgebissenen schwachen Beine von
Siren oder Proteus nicht, wohl aber die ebenso häufig abgefressenen

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[163/0187] Menschen dagegen sind nicht nur homologe Theile, sondern auch von nahezu gleicher biologischer Bedeutung; ihre Regenerations- kraft aber ist sehr ungleich, und es fragt sich also, worauf diese Ungleichheit beruht. Die Regenerationskraft irgend eines Theils wird niemals blos von den Verhältnissen abhängen, welche gerade für die ins Auge gefasste Thierart massgebend sind, sondern auch von den Regenerationseinrichtungen, welche schon in der Vorfahren- reihe dieser Art vorhanden und auf sie durch Vererbung über- tragen wurden. Sehen wir aber einmal davon ab und betrachten die Regenerationskraft als nur auf Anpassung des einzelnen Falles beruhend, so wird man etwa in folgender Weise schliessen. Ob die Ausrüstung der Zellen eines Theils mit Ersatz-Determi- nanten behufs seiner Regenerationsfähigkeit eingerichtet wird oder nicht, hängt in erster Linie davon ab, ob der betreffende Theil überhaupt von häufigerem Verlust bedroht ist, also von der Höhe der Verlust-Wahrscheinlichkeit desselben. Für selten eintretende Verluste kann nicht Vorsorge getroffen werden, selbst wenn dieselben von grossem biologischen Nachtheil wären, weil die Einbusse an Individuenzahl, welche die Art etwa da- durch erleiden könnte, verschwindend klein wäre. Für das be- troffene Individuum kann ein solcher Verlust von grossem Nach- theil sein, nicht aber für die Art; Selectionsprocesse können also durch ihn nicht in Gang gesetzt werden. In zweiter Linie muss es die physiologische oder bio- logische Bedeutung des Organs selbst sein, welche in Be- tracht kommt. Ein rudimentärer, fast oder ganz bedeutungslos gewordener Theil wird häufig verstümmelt oder abgerissen werden können, ohne dass daraus Selectionsprocesse hervorgehen, die dessen Regenerationsfähigkeit bezwecken. So ersetzen sich z. B., soviel bekannt ist, die häufig abgebissenen schwachen Beine von Siren oder Proteus nicht, wohl aber die ebenso häufig abgefressenen 11*

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Zitationshilfe: Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892/187>, abgerufen am 27.04.2024.