Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969.pwe_010.001 Im Drama dieser Entdeckungen und Entwertungen bedeutet der Zerfall pwe_010.035 pwe_010.001 Im Drama dieser Entdeckungen und Entwertungen bedeutet der Zerfall pwe_010.035 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0016" n="10"/><lb n="pwe_010.001"/> und Geschichtswissenschaft durch Hegel zum imponierenden System verfestigt. <lb n="pwe_010.002"/> Von allen Seiten aber regten sich auch die Kräfte, die es unterhöhlten, <lb n="pwe_010.003"/> erschütterten und schließlich ins Unabsehbare sprengten, so sehr, <lb n="pwe_010.004"/> daß nach zwei Weltkriegen nicht gesagt werden kann, ob sich das nach allen <lb n="pwe_010.005"/> Seiten ins Offene zerfahrene Antlitz des Menschen in neuen Linien finden <lb n="pwe_010.006"/> wird. Der Naturalismus, als symmetrische Gegenform dem Idealismus seit <lb n="pwe_010.007"/> dem 18. Jahrhundert verbunden, übernimmt immer mehr die Rolle, den <lb n="pwe_010.008"/> Menschen zu entlarven und ihm den Charakter des freien Vernunftwesens <lb n="pwe_010.009"/> zu nehmen. Die mächtigen wirtschaftlichen, sozialen, technischen Umwälzungen <lb n="pwe_010.010"/> drängen dieses jedenfalls in die Defensive, machen es zur Funktion <lb n="pwe_010.011"/> unkontrollierbarer Mächte und lassen die Idee als Ideologie erscheinen. Mit <lb n="pwe_010.012"/> Nietzsche tritt an die Stelle der Vernunft das „Leben“ und eine entsprechende <lb n="pwe_010.013"/> Umwertung der Werte, eine Verdächtigung des historischen Horizontes <lb n="pwe_010.014"/> als ideologisch oder lebenshemmend und die forcierte Vision eines <lb n="pwe_010.015"/> Übermenschen. Wenn schon Nietzsche in der menschlichen Seele eine Wirklichkeit <lb n="pwe_010.016"/> sieht, die Vernunftsgesichtspunkten entrückt ist, so hat die Tiefenpsychologie <lb n="pwe_010.017"/> durch die Entdeckung des Unbewußten und vor allem der niemals <lb n="pwe_010.018"/> abgetanen, schichtenhaft in der Tiefe gelagerten und jederzeit wirksamen <lb n="pwe_010.019"/> kollektiven, primitiven Welten des Seelischen die Grenzen des Wesens <lb n="pwe_010.020"/> Mensch ins Unabsehbare ausgeweitet. Von entgegengesetzter Seite her, <lb n="pwe_010.021"/> aber gegen das selbe Zentrum, stellt schließlich der Existentialismus Kierkegaards <lb n="pwe_010.022"/> und seiner theologischen und philosophischen Nachfolger den Menschen <lb n="pwe_010.023"/> in Frage, stellt ihn in die Bedrohung des Todes und des Nichts; sie <lb n="pwe_010.024"/> sehen sein Wesen nicht im vernünftigen Erkennen oder schönen Gestalten, <lb n="pwe_010.025"/> sondern in der Aktualität des sich einsam entscheidenden Daseins. Auch hier <lb n="pwe_010.026"/> zerbricht die Geschichte als sinnvoller, objektiver Zusammenhang der Tradition, <lb n="pwe_010.027"/> zerbricht Wahrheit als objektives geistiges System zugunsten einer <lb n="pwe_010.028"/> nur im Gelebtwerden sich ereignenden Wahrheit; an Stelle der Tradition <lb n="pwe_010.029"/> tritt die „Wiederholung“. Der Mensch findet seine Wirklichkeit nur in der <lb n="pwe_010.030"/> Not des Augenblicks, in die er geworfen ist: hier aber bleibt der Weg <lb n="pwe_010.031"/> offen, einerseits vielleicht in eine neue Glaubens- und Personlehre, anderseits <lb n="pwe_010.032"/> in einem Nihilismus z. B. Jüngerscher Prägung, wo der Geist, auf dem <lb n="pwe_010.033"/> „magischen Nullpunkt“, sich selbst in die Luft sprengt.</p> <lb n="pwe_010.034"/> <p> Im Drama dieser Entdeckungen und Entwertungen bedeutet der Zerfall <lb n="pwe_010.035"/> der idealistischen wie der positivistischen Erkenntnissysteme allerdings nicht <lb n="pwe_010.036"/> nur ein Negatives: Der Weg wird frei für neue Erkenntnismöglichkeiten, <lb n="pwe_010.037"/> sei es im Sinn einer phänomenologischen Wesensschau im Allgemeinen, sei <lb n="pwe_010.038"/> es in der konkreten Erfahrung und Begriffsbildung der angewandten <lb n="pwe_010.039"/> Wissenschaften. Die alte Kluft von Natur- und Geisteswissenschaften beginnt <lb n="pwe_010.040"/> sich zu schließen; Begriffe wie Gestalt oder Symbol werden hier wie <lb n="pwe_010.041"/> dort fruchtbar; hier wie dort wird der Standortbedingtheit des Erkennens </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [10/0016]
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und Geschichtswissenschaft durch Hegel zum imponierenden System verfestigt. pwe_010.002
Von allen Seiten aber regten sich auch die Kräfte, die es unterhöhlten, pwe_010.003
erschütterten und schließlich ins Unabsehbare sprengten, so sehr, pwe_010.004
daß nach zwei Weltkriegen nicht gesagt werden kann, ob sich das nach allen pwe_010.005
Seiten ins Offene zerfahrene Antlitz des Menschen in neuen Linien finden pwe_010.006
wird. Der Naturalismus, als symmetrische Gegenform dem Idealismus seit pwe_010.007
dem 18. Jahrhundert verbunden, übernimmt immer mehr die Rolle, den pwe_010.008
Menschen zu entlarven und ihm den Charakter des freien Vernunftwesens pwe_010.009
zu nehmen. Die mächtigen wirtschaftlichen, sozialen, technischen Umwälzungen pwe_010.010
drängen dieses jedenfalls in die Defensive, machen es zur Funktion pwe_010.011
unkontrollierbarer Mächte und lassen die Idee als Ideologie erscheinen. Mit pwe_010.012
Nietzsche tritt an die Stelle der Vernunft das „Leben“ und eine entsprechende pwe_010.013
Umwertung der Werte, eine Verdächtigung des historischen Horizontes pwe_010.014
als ideologisch oder lebenshemmend und die forcierte Vision eines pwe_010.015
Übermenschen. Wenn schon Nietzsche in der menschlichen Seele eine Wirklichkeit pwe_010.016
sieht, die Vernunftsgesichtspunkten entrückt ist, so hat die Tiefenpsychologie pwe_010.017
durch die Entdeckung des Unbewußten und vor allem der niemals pwe_010.018
abgetanen, schichtenhaft in der Tiefe gelagerten und jederzeit wirksamen pwe_010.019
kollektiven, primitiven Welten des Seelischen die Grenzen des Wesens pwe_010.020
Mensch ins Unabsehbare ausgeweitet. Von entgegengesetzter Seite her, pwe_010.021
aber gegen das selbe Zentrum, stellt schließlich der Existentialismus Kierkegaards pwe_010.022
und seiner theologischen und philosophischen Nachfolger den Menschen pwe_010.023
in Frage, stellt ihn in die Bedrohung des Todes und des Nichts; sie pwe_010.024
sehen sein Wesen nicht im vernünftigen Erkennen oder schönen Gestalten, pwe_010.025
sondern in der Aktualität des sich einsam entscheidenden Daseins. Auch hier pwe_010.026
zerbricht die Geschichte als sinnvoller, objektiver Zusammenhang der Tradition, pwe_010.027
zerbricht Wahrheit als objektives geistiges System zugunsten einer pwe_010.028
nur im Gelebtwerden sich ereignenden Wahrheit; an Stelle der Tradition pwe_010.029
tritt die „Wiederholung“. Der Mensch findet seine Wirklichkeit nur in der pwe_010.030
Not des Augenblicks, in die er geworfen ist: hier aber bleibt der Weg pwe_010.031
offen, einerseits vielleicht in eine neue Glaubens- und Personlehre, anderseits pwe_010.032
in einem Nihilismus z. B. Jüngerscher Prägung, wo der Geist, auf dem pwe_010.033
„magischen Nullpunkt“, sich selbst in die Luft sprengt.
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Im Drama dieser Entdeckungen und Entwertungen bedeutet der Zerfall pwe_010.035
der idealistischen wie der positivistischen Erkenntnissysteme allerdings nicht pwe_010.036
nur ein Negatives: Der Weg wird frei für neue Erkenntnismöglichkeiten, pwe_010.037
sei es im Sinn einer phänomenologischen Wesensschau im Allgemeinen, sei pwe_010.038
es in der konkreten Erfahrung und Begriffsbildung der angewandten pwe_010.039
Wissenschaften. Die alte Kluft von Natur- und Geisteswissenschaften beginnt pwe_010.040
sich zu schließen; Begriffe wie Gestalt oder Symbol werden hier wie pwe_010.041
dort fruchtbar; hier wie dort wird der Standortbedingtheit des Erkennens
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