Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891.
-- In den ersten Ferientagen fiel er mir vor die Füße. Ich hatte den Plötz in der Hand. -- Ich verriegelte die Thür und durchflog die flimmernden Zeilen, wie eine aufgeschreckte Eule einen brennenden Wald durchfliegt -- ich glaube, ich habe das meiste mit geschlossenen Augen gelesen. Wie eine Reihe dunkler Erinnerungen klangen mir deine Auseinandersetzungen in's Ohr, wie ein Lied, das Einer als Kind einst fröhlich vor sich hin- gesummt und das ihm, wie er eben im Sterben liegt, herz- erschütternd aus dem Mund eines Andern entgegentönt. -- Am heftigsten zog mich in Mitleidenschaft, was du vom Mädchen schreibst. Ich werde die Eindrücke nicht mehr los. Glaub' mir, Melchior, Unrecht leiden zu müssen, ist süßer, denn Unrecht thun! Unverschuldet ein so süßes Unrecht über sich ergehen lassen zu müssen, scheint mir der Inbegriff aller irdischen Seligkeit. Melchior. -- Ich will meine Seligkeit nicht als Almosen! Moritz. Aber warum denn nicht? Melchior. Ich will nichts, was ich mir nicht habe er- kämpfen müssen! Moritz. Ist dann das noch Genuß, Melchior?! -- Das Mädchen, Melchior, genießt wie die seligen Götter. Das Mädchen wehrt sich dank seiner Veranlagung. Es hält sich bis zum letzten Augenblick von jeder Bitterniß frei, um mit einem Mal alle Himmel über sich hereinbrechen zu sehen. Das Mädchen fürchtet die Hölle noch in dem Moment, da es ein erblühendes Paradies wahrnimmt. Sein Empfinden ist so frisch, wie der Quell, der dem Fels ent- springt. Das Mädchen ergreift einen Pokal, über den noch kein irdischer Hauch geweht, einen Nektarkelch, dessen Inhalt es, wie er flammt und flackert, hinunterschlingt ... Die Befriedigung, die der Mann dabei findet, denke ich mir schaal und abgestanden. Melchior. Denke sie dir, wie du magst, aber behalte sie für dich. -- Ich denke sie mir nicht gern ...
— In den erſten Ferientagen fiel er mir vor die Füße. Ich hatte den Plötz in der Hand. — Ich verriegelte die Thür und durchflog die flimmernden Zeilen, wie eine aufgeſchreckte Eule einen brennenden Wald durchfliegt — ich glaube, ich habe das meiſte mit geſchloſſenen Augen geleſen. Wie eine Reihe dunkler Erinnerungen klangen mir deine Auseinanderſetzungen in's Ohr, wie ein Lied, das Einer als Kind einſt fröhlich vor ſich hin- geſummt und das ihm, wie er eben im Sterben liegt, herz- erſchütternd aus dem Mund eines Andern entgegentönt. — Am heftigſten zog mich in Mitleidenſchaft, was du vom Mädchen ſchreibſt. Ich werde die Eindrücke nicht mehr los. Glaub' mir, Melchior, Unrecht leiden zu müſſen, iſt ſüßer, denn Unrecht thun! Unverſchuldet ein ſo ſüßes Unrecht über ſich ergehen laſſen zu müſſen, ſcheint mir der Inbegriff aller irdiſchen Seligkeit. Melchior. — Ich will meine Seligkeit nicht als Almoſen! Moritz. Aber warum denn nicht? Melchior. Ich will nichts, was ich mir nicht habe er- kämpfen müſſen! Moritz. Iſt dann das noch Genuß, Melchior?! — Das Mädchen, Melchior, genießt wie die ſeligen Götter. Das Mädchen wehrt ſich dank ſeiner Veranlagung. Es hält ſich bis zum letzten Augenblick von jeder Bitterniß frei, um mit einem Mal alle Himmel über ſich hereinbrechen zu ſehen. Das Mädchen fürchtet die Hölle noch in dem Moment, da es ein erblühendes Paradies wahrnimmt. Sein Empfinden iſt ſo friſch, wie der Quell, der dem Fels ent- ſpringt. Das Mädchen ergreift einen Pokal, über den noch kein irdiſcher Hauch geweht, einen Nektarkelch, deſſen Inhalt es, wie er flammt und flackert, hinunterſchlingt … Die Befriedigung, die der Mann dabei findet, denke ich mir ſchaal und abgeſtanden. Melchior. Denke ſie dir, wie du magſt, aber behalte ſie für dich. — Ich denke ſie mir nicht gern … <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <sp who="#MOR"> <p><pb facs="#f0046" n="30"/> — In den erſten Ferientagen fiel er mir vor die Füße. Ich<lb/> hatte den Plötz in der Hand. — Ich verriegelte die Thür und<lb/> durchflog die flimmernden Zeilen, wie eine aufgeſchreckte Eule<lb/> einen brennenden Wald durchfliegt — ich glaube, ich habe das<lb/> meiſte mit geſchloſſenen Augen geleſen. Wie eine Reihe dunkler<lb/> Erinnerungen klangen mir deine Auseinanderſetzungen in's Ohr,<lb/> wie ein Lied, das Einer als Kind einſt fröhlich vor ſich hin-<lb/> geſummt und das ihm, wie er eben im Sterben liegt, herz-<lb/> erſchütternd aus dem Mund eines Andern entgegentönt. — Am<lb/> heftigſten zog mich in Mitleidenſchaft, was du vom Mädchen<lb/> ſchreibſt. Ich werde die Eindrücke nicht mehr los. Glaub' mir,<lb/> Melchior, Unrecht leiden zu müſſen, iſt ſüßer, denn Unrecht thun!<lb/> Unverſchuldet ein ſo ſüßes Unrecht über ſich ergehen laſſen zu<lb/> müſſen, ſcheint mir der Inbegriff aller irdiſchen Seligkeit.</p> </sp><lb/> <sp who="#MEL"> <speaker><hi rendition="#g">Melchior</hi>.</speaker> <p>— Ich will meine Seligkeit nicht als Almoſen!</p> </sp><lb/> <sp who="#MOR"> <speaker><hi rendition="#g">Moritz</hi>.</speaker> <p>Aber warum denn nicht?</p> </sp><lb/> <sp who="#MEL"> <speaker><hi rendition="#g">Melchior</hi>.</speaker> <p>Ich <hi rendition="#g">will</hi> nichts, was ich mir nicht habe er-<lb/> kämpfen müſſen!</p> </sp><lb/> <sp who="#MOR"> <speaker><hi rendition="#g">Moritz</hi>.</speaker> <p>Iſt dann das noch Genuß, Melchior?! — Das<lb/> Mädchen, Melchior, genießt wie die ſeligen Götter. Das Mädchen<lb/> wehrt ſich dank ſeiner Veranlagung. Es hält ſich bis zum letzten<lb/> Augenblick von jeder Bitterniß frei, um mit einem Mal alle Himmel<lb/> über ſich hereinbrechen zu ſehen. Das Mädchen fürchtet die Hölle<lb/> noch in dem Moment, da es ein erblühendes Paradies wahrnimmt.<lb/> Sein Empfinden iſt ſo friſch, wie der Quell, der dem Fels ent-<lb/> ſpringt. Das Mädchen ergreift einen Pokal, über den noch kein<lb/> irdiſcher Hauch geweht, einen Nektarkelch, deſſen Inhalt es, wie er<lb/> flammt und flackert, hinunterſchlingt … Die Befriedigung, die der<lb/> Mann dabei findet, denke ich mir ſchaal und abgeſtanden.</p> </sp><lb/> <sp who="#MEL"> <speaker><hi rendition="#g">Melchior</hi>.</speaker> <p>Denke ſie dir, wie du magſt, aber behalte ſie<lb/> für dich. — Ich denke ſie mir nicht gern …</p> </sp> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> </body> </text> </TEI> [30/0046]
— In den erſten Ferientagen fiel er mir vor die Füße. Ich
hatte den Plötz in der Hand. — Ich verriegelte die Thür und
durchflog die flimmernden Zeilen, wie eine aufgeſchreckte Eule
einen brennenden Wald durchfliegt — ich glaube, ich habe das
meiſte mit geſchloſſenen Augen geleſen. Wie eine Reihe dunkler
Erinnerungen klangen mir deine Auseinanderſetzungen in's Ohr,
wie ein Lied, das Einer als Kind einſt fröhlich vor ſich hin-
geſummt und das ihm, wie er eben im Sterben liegt, herz-
erſchütternd aus dem Mund eines Andern entgegentönt. — Am
heftigſten zog mich in Mitleidenſchaft, was du vom Mädchen
ſchreibſt. Ich werde die Eindrücke nicht mehr los. Glaub' mir,
Melchior, Unrecht leiden zu müſſen, iſt ſüßer, denn Unrecht thun!
Unverſchuldet ein ſo ſüßes Unrecht über ſich ergehen laſſen zu
müſſen, ſcheint mir der Inbegriff aller irdiſchen Seligkeit.
Melchior. — Ich will meine Seligkeit nicht als Almoſen!
Moritz. Aber warum denn nicht?
Melchior. Ich will nichts, was ich mir nicht habe er-
kämpfen müſſen!
Moritz. Iſt dann das noch Genuß, Melchior?! — Das
Mädchen, Melchior, genießt wie die ſeligen Götter. Das Mädchen
wehrt ſich dank ſeiner Veranlagung. Es hält ſich bis zum letzten
Augenblick von jeder Bitterniß frei, um mit einem Mal alle Himmel
über ſich hereinbrechen zu ſehen. Das Mädchen fürchtet die Hölle
noch in dem Moment, da es ein erblühendes Paradies wahrnimmt.
Sein Empfinden iſt ſo friſch, wie der Quell, der dem Fels ent-
ſpringt. Das Mädchen ergreift einen Pokal, über den noch kein
irdiſcher Hauch geweht, einen Nektarkelch, deſſen Inhalt es, wie er
flammt und flackert, hinunterſchlingt … Die Befriedigung, die der
Mann dabei findet, denke ich mir ſchaal und abgeſtanden.
Melchior. Denke ſie dir, wie du magſt, aber behalte ſie
für dich. — Ich denke ſie mir nicht gern …
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |