Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891. Moritz. Und dabei bist du noch fast um ein ganzes Jahr jünger als ich! Melchior. Darüber, Moritz, würd' ich mir keine Ge- danken machen. All' meinen Erfahrungen nach besteht für das erste Auftauchen der Phantome keine bestimmte Altersstufe. Kennst du den großen Lämmermeier mit dem strohgelben Haar und der Adlernase? Drei Jahre ist der älter als ich. Hänschen Rilow sagt, der träume noch bis heute von nichts als Sandtorten und Aprikosengelee. Moritz. Ich bitte dich, wie kann Hänschen Rilow dar- über urtheilen. Melchior. Er hat ihn gefragt. Moritz. Er hat ihn gefragt? -- Ich hätte mich nicht getraut, jemanden zu fragen. Melchior. Du hast mich doch auch gefragt. Moritz. Weiß Gott ja! -- Möglicherweise hatte Hänschen auch schon sein Testament gemacht. -- Wahrlich ein sonderbares Spiel, das man mit uns treibt. Und dafür sollen wir uns dankbar erweisen! Ich erinnere mich nicht, je eine Sehnsucht nach dieser Art Aufregungen verspürt zu haben. Warum hat man mich nicht schlafen lassen, bis alles wieder still gewesen wäre. Meine lieben Eltern hätten hundert bessere Kinder haben können. So bin ich nun hergekommen, ich weiß nicht wie, und soll mich dafür ver- antworten, daß ich nicht weggeblieben bin. -- Hast du nicht auch schon darüber nachgedacht, Melchior, auf welche Art und Weise wir eigentlich in den Strudel hineingerathen? Melchior. Du weißt das also noch nicht, Moritz? Moritz. Wie sollt' ich es wissen? -- Ich sehe, wie die Hühner Eier legen, und höre, daß mich Mama unter dem Herzen getragen haben will. Aber genügt denn das? -- Ich erinnere Moritz. Und dabei biſt du noch faſt um ein ganzes Jahr jünger als ich! Melchior. Darüber, Moritz, würd' ich mir keine Ge- danken machen. All' meinen Erfahrungen nach beſteht für das erſte Auftauchen der Phantome keine beſtimmte Altersſtufe. Kennſt du den großen Lämmermeier mit dem ſtrohgelben Haar und der Adlernaſe? Drei Jahre iſt der älter als ich. Hänschen Rilow ſagt, der träume noch bis heute von nichts als Sandtorten und Aprikoſengėlėe. Moritz. Ich bitte dich, wie kann Hänschen Rilow dar- über urtheilen. Melchior. Er hat ihn gefragt. Moritz. Er hat ihn gefragt? — Ich hätte mich nicht getraut, jemanden zu fragen. Melchior. Du haſt mich doch auch gefragt. Moritz. Weiß Gott ja! — Möglicherweiſe hatte Hänschen auch ſchon ſein Teſtament gemacht. — Wahrlich ein ſonderbares Spiel, das man mit uns treibt. Und dafür ſollen wir uns dankbar erweiſen! Ich erinnere mich nicht, je eine Sehnſucht nach dieſer Art Aufregungen verſpürt zu haben. Warum hat man mich nicht ſchlafen laſſen, bis alles wieder ſtill geweſen wäre. Meine lieben Eltern hätten hundert beſſere Kinder haben können. So bin ich nun hergekommen, ich weiß nicht wie, und ſoll mich dafür ver- antworten, daß ich nicht weggeblieben bin. — Haſt du nicht auch ſchon darüber nachgedacht, Melchior, auf welche Art und Weiſe wir eigentlich in den Strudel hineingerathen? Melchior. Du weißt das alſo noch nicht, Moritz? Moritz. Wie ſollt' ich es wiſſen? — Ich ſehe, wie die Hühner Eier legen, und höre, daß mich Mama unter dem Herzen getragen haben will. Aber genügt denn das? — Ich erinnere <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0024" n="8"/> <sp who="#MOR"> <speaker><hi rendition="#g">Moritz</hi>.</speaker> <p>Und dabei biſt du noch faſt um ein ganzes Jahr<lb/> jünger als ich!</p> </sp><lb/> <sp who="#MEL"> <speaker><hi rendition="#g">Melchior</hi>.</speaker> <p>Darüber, Moritz, würd' ich mir keine Ge-<lb/> danken machen. All' meinen Erfahrungen nach beſteht für das<lb/> erſte Auftauchen der Phantome keine beſtimmte Altersſtufe. Kennſt<lb/> du den großen Lämmermeier mit dem ſtrohgelben Haar und der<lb/> Adlernaſe? Drei Jahre iſt der älter als ich. 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Melchior. Darüber, Moritz, würd' ich mir keine Ge-
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erſte Auftauchen der Phantome keine beſtimmte Altersſtufe. Kennſt
du den großen Lämmermeier mit dem ſtrohgelben Haar und der
Adlernaſe? Drei Jahre iſt der älter als ich. Hänschen Rilow
ſagt, der träume noch bis heute von nichts als Sandtorten und
Aprikoſengėlėe.
Moritz. Ich bitte dich, wie kann Hänschen Rilow dar-
über urtheilen.
Melchior. Er hat ihn gefragt.
Moritz. Er hat ihn gefragt? — Ich hätte mich nicht
getraut, jemanden zu fragen.
Melchior. Du haſt mich doch auch gefragt.
Moritz. Weiß Gott ja! — Möglicherweiſe hatte Hänschen
auch ſchon ſein Teſtament gemacht. — Wahrlich ein ſonderbares
Spiel, das man mit uns treibt. Und dafür ſollen wir uns dankbar
erweiſen! Ich erinnere mich nicht, je eine Sehnſucht nach dieſer
Art Aufregungen verſpürt zu haben. Warum hat man mich nicht
ſchlafen laſſen, bis alles wieder ſtill geweſen wäre. Meine lieben
Eltern hätten hundert beſſere Kinder haben können. So bin ich
nun hergekommen, ich weiß nicht wie, und ſoll mich dafür ver-
antworten, daß ich nicht weggeblieben bin. — Haſt du nicht auch
ſchon darüber nachgedacht, Melchior, auf welche Art und Weiſe
wir eigentlich in den Strudel hineingerathen?
Melchior. Du weißt das alſo noch nicht, Moritz?
Moritz. Wie ſollt' ich es wiſſen? — Ich ſehe, wie die
Hühner Eier legen, und höre, daß mich Mama unter dem Herzen
getragen haben will. Aber genügt denn das? — Ich erinnere
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Zitationshilfe: | Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wedekind_erwachen_1891/24>, abgerufen am 28.07.2024. |