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Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891.

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Melchior. Das mag soweit ganz richtig sein. -- Ich kann
Ihnen aber mit Bestimmtheit sagen, mein Herr, daß, wenn ich
Moritz vorhin ohne weiteres die Hand gereicht hätte, einzig und
allein mein Gewissen die Schuld trüge.
Der vermummte Herr. Dafür bist du eben nicht Moritz!
Moritz. Ich glaube doch nicht, daß der Unterschied so
wesentlich ist -- zum mindesten nicht so zwingend, daß Sie nicht
auch mir zufällig hätten begegnen dürfen, verehrter Unbe-
kannter
, als ich damals, das Pistol in der Tasche, durch die
Erlenpflanzungen trabte.
Der vermummte Herr. Erinnern Sie sich meiner denn
nicht? -- Uebrigens ist hier meines Erachtens doch wohl nicht
ganz der Ort, eine so tiefgreifende Debatte in die Länge zu ziehen.
Moritz. Es wird kühl, meine Herren! -- Man hat mir
zwar meinen Sonntagsanzug angezogen, aber ich trage weder
Hemd noch Unterhosen.
Melchior. Leb wohl, lieber Moritz. Wo dieser Mensch
mich hinführt, weiß ich nicht. Aber er ist ein Mensch ...
Moritz. Laß mich's nicht entgelten, Melchior, daß ich dich
umzubringen suchte. Es war alte Anhänglichkeit. -- Zeitlebens
wollte ich nur klagen und jammern dürfen, wenn ich dich nun
noch einmal hinausbegleiten könnte!
Der vermummte Herr. Schließlich hat jeder sein Theil
-- Sie das beruhigende Bewußtsein, nichts zu haben -- du
den enervirenden Zweifel an allem. -- Leben Sie wohl.
Melchior. Leb wohl, Moritz. Nimm meinen herzlichen
Dank, daß du mir noch erschienen. Wie manchen frohen unge-
trübten Tag wir nicht mit einander verlebt haben in den vierzehn
Jahren! Ich verspreche dir, Moritz, mag nun werden was will,
mag ich in den kommenden Jahren zehnmal ein Anderer werden,
Melchior. Das mag ſoweit ganz richtig ſein. — Ich kann
Ihnen aber mit Beſtimmtheit ſagen, mein Herr, daß, wenn ich
Moritz vorhin ohne weiteres die Hand gereicht hätte, einzig und
allein mein Gewiſſen die Schuld trüge.
Der vermummte Herr. Dafür biſt du eben nicht Moritz!
Moritz. Ich glaube doch nicht, daß der Unterſchied ſo
weſentlich iſt — zum mindeſten nicht ſo zwingend, daß Sie nicht
auch mir zufällig hätten begegnen dürfen, verehrter Unbe-
kannter
, als ich damals, das Piſtol in der Taſche, durch die
Erlenpflanzungen trabte.
Der vermummte Herr. Erinnern Sie ſich meiner denn
nicht? — Uebrigens iſt hier meines Erachtens doch wohl nicht
ganz der Ort, eine ſo tiefgreifende Debatte in die Länge zu ziehen.
Moritz. Es wird kühl, meine Herren! — Man hat mir
zwar meinen Sonntagsanzug angezogen, aber ich trage weder
Hemd noch Unterhoſen.
Melchior. Leb wohl, lieber Moritz. Wo dieſer Menſch
mich hinführt, weiß ich nicht. Aber er iſt ein Menſch …
Moritz. Laß mich's nicht entgelten, Melchior, daß ich dich
umzubringen ſuchte. Es war alte Anhänglichkeit. — Zeitlebens
wollte ich nur klagen und jammern dürfen, wenn ich dich nun
noch einmal hinausbegleiten könnte!
Der vermummte Herr. Schließlich hat jeder ſein Theil
Sie das beruhigende Bewußtſein, nichts zu haben — du
den enervirenden Zweifel an allem. — Leben Sie wohl.
Melchior. Leb wohl, Moritz. Nimm meinen herzlichen
Dank, daß du mir noch erſchienen. Wie manchen frohen unge-
trübten Tag wir nicht mit einander verlebt haben in den vierzehn
Jahren! Ich verſpreche dir, Moritz, mag nun werden was will,
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[84/0100] Melchior. Das mag ſoweit ganz richtig ſein. — Ich kann Ihnen aber mit Beſtimmtheit ſagen, mein Herr, daß, wenn ich Moritz vorhin ohne weiteres die Hand gereicht hätte, einzig und allein mein Gewiſſen die Schuld trüge. Der vermummte Herr. Dafür biſt du eben nicht Moritz! Moritz. Ich glaube doch nicht, daß der Unterſchied ſo weſentlich iſt — zum mindeſten nicht ſo zwingend, daß Sie nicht auch mir zufällig hätten begegnen dürfen, verehrter Unbe- kannter, als ich damals, das Piſtol in der Taſche, durch die Erlenpflanzungen trabte. Der vermummte Herr. Erinnern Sie ſich meiner denn nicht? — Uebrigens iſt hier meines Erachtens doch wohl nicht ganz der Ort, eine ſo tiefgreifende Debatte in die Länge zu ziehen. Moritz. Es wird kühl, meine Herren! — Man hat mir zwar meinen Sonntagsanzug angezogen, aber ich trage weder Hemd noch Unterhoſen. Melchior. Leb wohl, lieber Moritz. Wo dieſer Menſch mich hinführt, weiß ich nicht. Aber er iſt ein Menſch … Moritz. Laß mich's nicht entgelten, Melchior, daß ich dich umzubringen ſuchte. Es war alte Anhänglichkeit. — Zeitlebens wollte ich nur klagen und jammern dürfen, wenn ich dich nun noch einmal hinausbegleiten könnte! Der vermummte Herr. Schließlich hat jeder ſein Theil — Sie das beruhigende Bewußtſein, nichts zu haben — du den enervirenden Zweifel an allem. — Leben Sie wohl. Melchior. Leb wohl, Moritz. Nimm meinen herzlichen Dank, daß du mir noch erſchienen. Wie manchen frohen unge- trübten Tag wir nicht mit einander verlebt haben in den vierzehn Jahren! Ich verſpreche dir, Moritz, mag nun werden was will, mag ich in den kommenden Jahren zehnmal ein Anderer werden,

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Zitationshilfe: Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wedekind_erwachen_1891/100>, abgerufen am 24.11.2024.