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Weber, Max: Politik als Beruf. In: Geistige Arbeit als Beruf. Vier Vorträge vor dem Freistudentischen Bund. Zweiter Vortrag. München, 1919.

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Eine fünfte Schicht war dem Okzident, vor allem auf dem
europäischen Kontinent, eigentümlich und war für dessen ganze
politische Struktur von ausschlaggebender Bedeutung: die
universitätsgeschulten Juristen. Die gewaltige Nachwirkung
des römischen Rechts, wie es der bureaukratische spätrömische
Staat umgebildet hatte, tritt in nichts deutlicher hervor als
darin: daß überall die Revolutionierung des politischen Be-
triebs im Sinne der Entwicklung zum rationalen Staat von
geschulten Juristen getragen wurde. Auch in England, ob-
wohl dort die großen nationalen Juristenzünfte die Rezeption
des römischen Rechts hinderten. Man findet in keinem Gebiet
der Erde dazu irgendeine Analogie. Alle Ansätze rationalen
juristischen Denkens in der indischen Mimamsa-Schule und
alle Weiterpflege des antiken juristischen Denkens im Jslam
haben die Überwucherung des rationalen Rechtsdenkens durch
theologische Denkformen nicht hindern können. Vor allem wurde
das Prozeßverfahren nicht voll rationalisiert. Das hat nur
die Übernahme der antik römischen Jurisprudenz, des Produkts
eines aus dem Stadtstaat zur Weltherrschaft aufsteigenden poli-
tischen Gebildes ganz einzigartigen Charakters, durch die italie-
nischen Juristen zuwege gebracht, der "Usus modernus" der
spätmittelalterlichen Pandektisten und Kanonisten, und die aus
juristischem und christlichem Denken geborenen und später säku-
larisierten Naturrechtstheorien. Jm italienischen Podestat,
in den französischen Königsjuristen, welche die formellen Mittel
zur Untergrabung der Herrschaft der Seigneurs durch die
Königsmacht schufen, in den Kanonisten und naturrechtlich
denkenden Theologen des Konziliarismus, in den Hofjuristen
und gelehrten Richtern der kontinentalen Fürsten, in den
niederländischen Naturrechtslehren und den Monarchomachen,
in den englischen Kron- und den Parlamentsjuristen, in der
Noblesse de Robe der französischen Parlamente, endlich in
den Advokaten der Revolutionszeit hat dieser juristische
Rationalismus seine großen Repräsentanten gehabt. Ohne
ihn ist das Entstehen des absoluten Staates so wenig denkbar
wie die Revolution. Wenn Sie die Remonstrationen der franzö-
sischen Parlamente oder die Cahiers der französischen General-

Eine fünfte Schicht war dem Okzident, vor allem auf dem
europäiſchen Kontinent, eigentümlich und war für deſſen ganze
politiſche Struktur von ausſchlaggebender Bedeutung: die
univerſitätsgeſchulten Juriſten. Die gewaltige Nachwirkung
des römiſchen Rechts, wie es der bureaukratiſche ſpätrömiſche
Staat umgebildet hatte, tritt in nichts deutlicher hervor als
darin: daß überall die Revolutionierung des politiſchen Be-
triebs im Sinne der Entwicklung zum rationalen Staat von
geſchulten Juriſten getragen wurde. Auch in England, ob-
wohl dort die großen nationalen Juriſtenzünfte die Rezeption
des römiſchen Rechts hinderten. Man findet in keinem Gebiet
der Erde dazu irgendeine Analogie. Alle Ansätze rationalen
juriſtiſchen Denkens in der indiſchen Mimamſa-Schule und
alle Weiterpflege des antiken juriſtiſchen Denkens im Jſlam
haben die Überwucherung des rationalen Rechtsdenkens durch
theologiſche Denkformen nicht hindern können. Vor allem wurde
das Prozeßverfahren nicht voll rationaliſiert. Das hat nur
die Übernahme der antik römiſchen Jurisprudenz, des Produkts
eines aus dem Stadtſtaat zur Weltherrſchaft aufſteigenden poli-
tiſchen Gebildes ganz einzigartigen Charakters, durch die italie-
niſchen Juriſten zuwege gebracht, der „Usus modernus“ der
ſpätmittelalterlichen Pandektiſten und Kanoniſten, und die aus
juriſtiſchem und chriſtlichem Denken geborenen und ſpäter ſäku-
lariſierten Naturrechtſtheorien. Jm italieniſchen Podeſtat,
in den franzöſiſchen Königsjuriſten, welche die formellen Mittel
zur Untergrabung der Herrſchaft der Seigneurs durch die
Königsmacht ſchufen, in den Kanoniſten und naturrechtlich
denkenden Theologen des Konziliarismus, in den Hofjuriſten
und gelehrten Richtern der kontinentalen Fürſten, in den
niederländiſchen Naturrechtslehren und den Monarchomachen,
in den engliſchen Kron- und den Parlamentsjuriſten, in der
Noblesse de Robe der franzöſiſchen Parlamente, endlich in
den Advokaten der Revolutionszeit hat dieſer juriſtiſche
Rationalismus ſeine großen Repräſentanten gehabt. Ohne
ihn iſt das Entſtehen des abſoluten Staates ſo wenig denkbar
wie die Revolution. Wenn Sie die Remonſtrationen der franzö-
ſiſchen Parlamente oder die Cahiers der franzöſiſchen General-

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[23/0023] Eine fünfte Schicht war dem Okzident, vor allem auf dem europäiſchen Kontinent, eigentümlich und war für deſſen ganze politiſche Struktur von ausſchlaggebender Bedeutung: die univerſitätsgeſchulten Juriſten. Die gewaltige Nachwirkung des römiſchen Rechts, wie es der bureaukratiſche ſpätrömiſche Staat umgebildet hatte, tritt in nichts deutlicher hervor als darin: daß überall die Revolutionierung des politiſchen Be- triebs im Sinne der Entwicklung zum rationalen Staat von geſchulten Juriſten getragen wurde. Auch in England, ob- wohl dort die großen nationalen Juriſtenzünfte die Rezeption des römiſchen Rechts hinderten. Man findet in keinem Gebiet der Erde dazu irgendeine Analogie. Alle Ansätze rationalen juriſtiſchen Denkens in der indiſchen Mimamſa-Schule und alle Weiterpflege des antiken juriſtiſchen Denkens im Jſlam haben die Überwucherung des rationalen Rechtsdenkens durch theologiſche Denkformen nicht hindern können. Vor allem wurde das Prozeßverfahren nicht voll rationaliſiert. Das hat nur die Übernahme der antik römiſchen Jurisprudenz, des Produkts eines aus dem Stadtſtaat zur Weltherrſchaft aufſteigenden poli- tiſchen Gebildes ganz einzigartigen Charakters, durch die italie- niſchen Juriſten zuwege gebracht, der „Usus modernus“ der ſpätmittelalterlichen Pandektiſten und Kanoniſten, und die aus juriſtiſchem und chriſtlichem Denken geborenen und ſpäter ſäku- lariſierten Naturrechtſtheorien. Jm italieniſchen Podeſtat, in den franzöſiſchen Königsjuriſten, welche die formellen Mittel zur Untergrabung der Herrſchaft der Seigneurs durch die Königsmacht ſchufen, in den Kanoniſten und naturrechtlich denkenden Theologen des Konziliarismus, in den Hofjuriſten und gelehrten Richtern der kontinentalen Fürſten, in den niederländiſchen Naturrechtslehren und den Monarchomachen, in den engliſchen Kron- und den Parlamentsjuriſten, in der Noblesse de Robe der franzöſiſchen Parlamente, endlich in den Advokaten der Revolutionszeit hat dieſer juriſtiſche Rationalismus ſeine großen Repräſentanten gehabt. Ohne ihn iſt das Entſtehen des abſoluten Staates ſo wenig denkbar wie die Revolution. Wenn Sie die Remonſtrationen der franzö- ſiſchen Parlamente oder die Cahiers der franzöſiſchen General-

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Zitationshilfe: Weber, Max: Politik als Beruf. In: Geistige Arbeit als Beruf. Vier Vorträge vor dem Freistudentischen Bund. Zweiter Vortrag. München, 1919, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weber_politik_1919/23>, abgerufen am 24.11.2024.