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Weber, Max: Politik als Beruf. In: Geistige Arbeit als Beruf. Vier Vorträge vor dem Freistudentischen Bund. Zweiter Vortrag. München, 1919.

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Würdelosigkeit beider Seiten bedeutet. Anstatt sich um das
zu kümmern, was den Politiker angeht: die Zukunft und die
Verantwortung vor ihr, befaßt sie sich mit politisch sterilen,
weil unaustragbaren Fragen der Schuld in der Vergangenheit.
Dies zu tun, ist politische Schuld, wenn es irgendeine gibt.
Und dabei wird überdies die unvermeidliche Verfälschung des
ganzen Problems durch sehr materielle Jnteressen übersehen:
Jnteressen des Siegers am höchstmöglichen Gewinn - moralischen
und materiellen -, Hoffnungen des Besiegten darauf, durch
Schuldbekenntnisse Vorteile einzuhandeln: wenn es irgend etwas
gibt, was "gemein" ist, dann dies, und das ist die Folge dieser
Art von Benutzung der "Ethik" als Mittel des "Rechthabens".

Wie steht es denn aber mit der wirklichen Beziehung zwischen
Ethik und Politik? Haben sie, wie man gelegentlich gesagt
hat, gar nichts miteinander zu tun? Oder ist es umgekehrt
richtig, daß "dieselbe" Ethik für das politische Handeln wie
für jedes andre gelte? Man hat zuweilen geglaubt, zwischen
diesen beiden Behauptungen bestehe eine ausschließliche Alter-
native; entweder die eine oder die andere sei richtig. Aber ist
es denn wahr: daß für erotische und geschäftliche, familiäre
und amtliche Beziehungen, für die Beziehungen zu Ehefrau,
Gemüsefrau, Sohn, Konkurrenten, Freund, Angeklagten die
inhaltlich gleichen Gebote von irgendeiner Ethik der Welt
aufgestellt werden könnten? Sollte es wirklich für die ethischen
Anforderungen an die Politik so gleichgültig sein, daß diese
mit einem sehr spezifischen Mittel: Macht, hinter der Ge-
waltsamkeit
steht, arbeitet? Sehen wir nicht, daß die
bolschewistischen und spartakistischen Jdeologen, eben weil sie
dieses Mittel der Politik anwenden, genau die gleichen
Resultate herbeiführen wie irgendein militaristischer Diktator?
Wodurch als eben durch die Person der Gewalthaber und
ihren Dilettantismus unterscheidet sich die Herrschaft der
Arbeiter- und Soldatenräte von der eines beliebigen Macht-
habers des alten Regimes? Wodurch die Polemik der meisten
Vertreter der vermeintlich neuen Ethik selbst gegen die von
ihnen kritisierten Gegner von der irgendwelcher anderer Dem-
agogen? Durch die edle Absicht! wird gesagt werden. Gut.

Würdeloſigkeit beider Seiten bedeutet. Anſtatt ſich um das
zu kümmern, was den Politiker angeht: die Zukunft und die
Verantwortung vor ihr, befaßt ſie ſich mit politiſch ſterilen,
weil unauſtragbaren Fragen der Schuld in der Vergangenheit.
Dies zu tun, iſt politiſche Schuld, wenn es irgendeine gibt.
Und dabei wird überdies die unvermeidliche Verfälſchung des
ganzen Problems durch ſehr materielle Jntereſſen überſehen:
Jntereſſen des Siegers am höchſtmöglichen Gewinn – moraliſchen
und materiellen –, Hoffnungen des Beſiegten darauf, durch
Schuldbekenntniſſe Vorteile einzuhandeln: wenn es irgend etwas
gibt, was „gemein“ iſt, dann dies, und das iſt die Folge dieſer
Art von Benutzung der „Ethik“ als Mittel des „Rechthabens“.

Wie ſteht es denn aber mit der wirklichen Beziehung zwiſchen
Ethik und Politik? Haben ſie, wie man gelegentlich geſagt
hat, gar nichts miteinander zu tun? Oder iſt es umgekehrt
richtig, daß „dieſelbe“ Ethik für das politiſche Handeln wie
für jedes andre gelte? Man hat zuweilen geglaubt, zwiſchen
dieſen beiden Behauptungen beſtehe eine ausſchließliche Alter-
native; entweder die eine oder die andere ſei richtig. Aber iſt
es denn wahr: daß für erotiſche und geſchäftliche, familiäre
und amtliche Beziehungen, für die Beziehungen zu Ehefrau,
Gemüſefrau, Sohn, Konkurrenten, Freund, Angeklagten die
inhaltlich gleichen Gebote von irgendeiner Ethik der Welt
aufgeſtellt werden könnten? Sollte es wirklich für die ethiſchen
Anforderungen an die Politik ſo gleichgültig ſein, daß dieſe
mit einem ſehr ſpezifiſchen Mittel: Macht, hinter der Ge-
waltſamkeit
ſteht, arbeitet? Sehen wir nicht, daß die
bolſchewiſtiſchen und ſpartakiſtiſchen Jdeologen, eben weil ſie
dieſes Mittel der Politik anwenden, genau die gleichen
Reſultate herbeiführen wie irgendein militariſtiſcher Diktator?
Wodurch als eben durch die Perſon der Gewalthaber und
ihren Dilettantismus unterſcheidet ſich die Herrſchaft der
Arbeiter- und Soldatenräte von der eines beliebigen Macht-
habers des alten Regimes? Wodurch die Polemik der meiſten
Vertreter der vermeintlich neuen Ethik ſelbſt gegen die von
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[54/0054] Würdeloſigkeit beider Seiten bedeutet. Anſtatt ſich um das zu kümmern, was den Politiker angeht: die Zukunft und die Verantwortung vor ihr, befaßt ſie ſich mit politiſch ſterilen, weil unauſtragbaren Fragen der Schuld in der Vergangenheit. Dies zu tun, iſt politiſche Schuld, wenn es irgendeine gibt. Und dabei wird überdies die unvermeidliche Verfälſchung des ganzen Problems durch ſehr materielle Jntereſſen überſehen: Jntereſſen des Siegers am höchſtmöglichen Gewinn – moraliſchen und materiellen –, Hoffnungen des Beſiegten darauf, durch Schuldbekenntniſſe Vorteile einzuhandeln: wenn es irgend etwas gibt, was „gemein“ iſt, dann dies, und das iſt die Folge dieſer Art von Benutzung der „Ethik“ als Mittel des „Rechthabens“. Wie ſteht es denn aber mit der wirklichen Beziehung zwiſchen Ethik und Politik? Haben ſie, wie man gelegentlich geſagt hat, gar nichts miteinander zu tun? Oder iſt es umgekehrt richtig, daß „dieſelbe“ Ethik für das politiſche Handeln wie für jedes andre gelte? Man hat zuweilen geglaubt, zwiſchen dieſen beiden Behauptungen beſtehe eine ausſchließliche Alter- native; entweder die eine oder die andere ſei richtig. Aber iſt es denn wahr: daß für erotiſche und geſchäftliche, familiäre und amtliche Beziehungen, für die Beziehungen zu Ehefrau, Gemüſefrau, Sohn, Konkurrenten, Freund, Angeklagten die inhaltlich gleichen Gebote von irgendeiner Ethik der Welt aufgeſtellt werden könnten? Sollte es wirklich für die ethiſchen Anforderungen an die Politik ſo gleichgültig ſein, daß dieſe mit einem ſehr ſpezifiſchen Mittel: Macht, hinter der Ge- waltſamkeit ſteht, arbeitet? Sehen wir nicht, daß die bolſchewiſtiſchen und ſpartakiſtiſchen Jdeologen, eben weil ſie dieſes Mittel der Politik anwenden, genau die gleichen Reſultate herbeiführen wie irgendein militariſtiſcher Diktator? Wodurch als eben durch die Perſon der Gewalthaber und ihren Dilettantismus unterſcheidet ſich die Herrſchaft der Arbeiter- und Soldatenräte von der eines beliebigen Macht- habers des alten Regimes? Wodurch die Polemik der meiſten Vertreter der vermeintlich neuen Ethik ſelbſt gegen die von ihnen kritiſierten Gegner von der irgendwelcher anderer Dem- agogen? Durch die edle Abſicht! wird geſagt werden. Gut.

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Zitationshilfe: Weber, Max: Politik als Beruf. In: Geistige Arbeit als Beruf. Vier Vorträge vor dem Freistudentischen Bund. Zweiter Vortrag. München, 1919, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weber_politik_1919/54>, abgerufen am 27.12.2024.