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Weber, Max: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik. Freiburg (Breisgau) u. a., 1895.

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nach dem Erscheinen eines neuen Cäsar, der sie schirme - nach
unten gegen aufsteigende Volksklassen - nach oben gegen sozial-
politische Anwandlungen, deren ihnen die deutschen Dynastien
verdächtig sind.

Und ein anderer Teil ist längst versunken in jene poli-
tische Spießbürgerei, aus welcher die breiten Schichten des
Kleinbürgerthums noch niemals erwacht sind. Schon als nach
den Einheitskriegen die ersten Anfänge positiver politischer Auf-
gaben der Nation nahe traten, der Gedanke einer überseeischen
Expansion, - da fehlte ihm selbst jenes einfachste ökonomische
Verständnis, welches ihm gesagt hätte, was es für den Handel
Deutschlands in fernen Meeren bedeutet, wenn an den Küsten
umher die deutschen Fahnen wehen.

Nicht ökonomische Gründe, auch nicht die vielberufene
"Jnteressenpolitik", welche andere Nationen in nicht geringerem
Maße kennen als wir, sind Schuld an der politischen Unreife
breiter Schichten des deutschen Bürgertums, der Grund liegt in
seiner unpolitischen Vergangenheit, darin daß die politische Er-
ziehungsarbeit eines Jahrhunderts sich nicht in einem Jahrzehnt
nachholen ließ und daß die Herrschaft eines großen Mannes
nicht immer ein Mittel politischer Erziehung ist. Und die
ernste Frage für die politische Zukunft des deutschen Bürger-
tums ist jetzt: ob es nicht nunmehr zu spät ist, sie nachzuholen.
Kein ökonomisches Moment kann sie ersetzen.

Werden andere Klassen die Träger einer politisch größeren
Zukunft sein? Selbstbewußt meldet sich das moderne Proletariat
als Erbe der bürgerlichen Jdeale. Wie steht es mit seiner
Anwartschaft auf die politische Leitung der Nation?

Wer heute der deutschen Arbeiterklasse sagen würde, sie sei

nach dem Erſcheinen eines neuen Cäſar, der ſie ſchirme – nach
unten gegen aufſteigende Volksklaſſen – nach oben gegen ſozial-
politiſche Anwandlungen, deren ihnen die deutſchen Dynaſtien
verdächtig ſind.

Und ein anderer Teil iſt längſt verſunken in jene poli-
tiſche Spießbürgerei, aus welcher die breiten Schichten des
Kleinbürgerthums noch niemals erwacht ſind. Schon als nach
den Einheitskriegen die erſten Anfänge poſitiver politiſcher Auf-
gaben der Nation nahe traten, der Gedanke einer überſeeiſchen
Expanſion, – da fehlte ihm ſelbſt jenes einfachſte ökonomiſche
Verſtändnis, welches ihm geſagt hätte, was es für den Handel
Deutſchlands in fernen Meeren bedeutet, wenn an den Küſten
umher die deutſchen Fahnen wehen.

Nicht ökonomiſche Gründe, auch nicht die vielberufene
„Jntereſſenpolitik“, welche andere Nationen in nicht geringerem
Maße kennen als wir, ſind Schuld an der politiſchen Unreife
breiter Schichten des deutſchen Bürgertums, der Grund liegt in
ſeiner unpolitiſchen Vergangenheit, darin daß die politiſche Er-
ziehungsarbeit eines Jahrhunderts ſich nicht in einem Jahrzehnt
nachholen ließ und daß die Herrſchaft eines großen Mannes
nicht immer ein Mittel politiſcher Erziehung iſt. Und die
ernſte Frage für die politiſche Zukunft des deutſchen Bürger-
tums iſt jetzt: ob es nicht nunmehr zu spät iſt, ſie nachzuholen.
Kein ökonomiſches Moment kann ſie erſetzen.

Werden andere Klaſſen die Träger einer politiſch größeren
Zukunft ſein? Selbſtbewußt meldet ſich das moderne Proletariat
als Erbe der bürgerlichen Jdeale. Wie ſteht es mit ſeiner
Anwartschaft auf die politiſche Leitung der Nation?

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[30/0036] nach dem Erſcheinen eines neuen Cäſar, der ſie ſchirme – nach unten gegen aufſteigende Volksklaſſen – nach oben gegen ſozial- politiſche Anwandlungen, deren ihnen die deutſchen Dynaſtien verdächtig ſind. Und ein anderer Teil iſt längſt verſunken in jene poli- tiſche Spießbürgerei, aus welcher die breiten Schichten des Kleinbürgerthums noch niemals erwacht ſind. Schon als nach den Einheitskriegen die erſten Anfänge poſitiver politiſcher Auf- gaben der Nation nahe traten, der Gedanke einer überſeeiſchen Expanſion, – da fehlte ihm ſelbſt jenes einfachſte ökonomiſche Verſtändnis, welches ihm geſagt hätte, was es für den Handel Deutſchlands in fernen Meeren bedeutet, wenn an den Küſten umher die deutſchen Fahnen wehen. Nicht ökonomiſche Gründe, auch nicht die vielberufene „Jntereſſenpolitik“, welche andere Nationen in nicht geringerem Maße kennen als wir, ſind Schuld an der politiſchen Unreife breiter Schichten des deutſchen Bürgertums, der Grund liegt in ſeiner unpolitiſchen Vergangenheit, darin daß die politiſche Er- ziehungsarbeit eines Jahrhunderts ſich nicht in einem Jahrzehnt nachholen ließ und daß die Herrſchaft eines großen Mannes nicht immer ein Mittel politiſcher Erziehung iſt. Und die ernſte Frage für die politiſche Zukunft des deutſchen Bürger- tums iſt jetzt: ob es nicht nunmehr zu spät iſt, ſie nachzuholen. Kein ökonomiſches Moment kann ſie erſetzen. Werden andere Klaſſen die Träger einer politiſch größeren Zukunft ſein? Selbſtbewußt meldet ſich das moderne Proletariat als Erbe der bürgerlichen Jdeale. Wie ſteht es mit ſeiner Anwartschaft auf die politiſche Leitung der Nation? Wer heute der deutſchen Arbeiterklaſſe ſagen würde, ſie ſei

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Zitationshilfe: Weber, Max: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik. Freiburg (Breisgau) u. a., 1895, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weber_nationalstaat_1895/36>, abgerufen am 28.03.2024.