Wander, Karl Friedrich Wilhelm (Hrsg.): Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Bd. 1. Leipzig, 1867.Schriften zerstreut vorhandenen Sprichwörter geordnet und übersichtlich zusammenstellte. Erst im 19. Jahrhundert erwacht das Bedürfniss nach übersichtlicher Concentrirung mit dem bereits erwähnten Wagner1, der in seinem Deutschen Sprichwörter-Lexikon zuerst den Weg betrat, welcher für Auffindung und Nachträge der einzige richtige und zum Ziel führende ist. Ihm folgten mit mehr oder weniger Strenge in der alphabetischen Anordnung auf diesem Wege, die Zahl von 3730 bis 12396 steigernd, Körte, Eiselein und Simrock. Wie dankbar wir für diese Arbeiten sind und wie gross der Nutzen ist, den sie für ihren Zweck gewähren, so sind sie doch weit entfernt, den deutschen Sprichwörterschatz in strenger Ordnung und möglicher Vollständigkeit darzustellen. Wir Deutschen gleichen nämlich in dieser Beziehung jenen Reichen, die nicht wissen, was sie besitzen, weil sie ihre Güter, die überall zerstreut sind, nie im Zusammenhang überblickt haben.2 Für den Sprichwörterbearbeiter ist die Kenntniss der Quellen das erste Erforderniss. Bei einer so umfassenden Arbeit, wie das Deutsche Sprichwörter-Lexikon ist, habe ich eine dem jetzigen Stande der Literatur entsprechende, d. i. vollständigere und besser eingerichtete Quellenkunde längst als ein dringendes Bedürfniss empfunden; eines Werks, das nicht blos die Titel und Ausgaben solcher Schriften aufzählt, welche unmittelbar und ausschliesslich den Sprichwörtern gewidmet sind, selbst nicht blos alle die, in denen sich kleinere oder grössere Sammlungen befinden, sondern alle, in denen ein Reichthum von Sprichwörtern enthalten, wenn sie auch irgendeinem andern Wissensfach angehören. Hauptsächlich infolge des Umstandes, dass unsere sprichwörtliche Quellenkunde sich auf specifische Sprichwörterschriften beschränkt, sind unsere Sprichwörtersammlungen, von denen man irrigerweise angenommen hat, dass sie den deutschen Sprichwörterschatz darstellen, verhältnissmässig so armselig und weit hinter dem wahren Bestande zurückgeblieben; diejenigen Schriften, die aus der lebendigen Quelle, dem Volksmunde und der Tagesliteratur schöpfen, fehlen darin. Den Mangel dieser Quellenschriften zu überwinden und die Lücken, welche Nopitsch und Zacher auf diesem Gebiet gelassen haben, auszufüllen, hat mir nicht nur viel Zeit und Kraft, sondern auch viel Geldopfer gekostet. Was hätte nun aber geschehen müssen, und was muss geschehen, wenn wir unsern Sprichwörterschatz möglichst vollständig in einem Werke vereinigt überschauen wollen? Was hätte geschehen müssen? Anstatt die Sammlungen des Agricola (vgl. Nopitsch, S. 13-23) und Franck (vgl. Nopitsch, S. 24 fg.) einmal über das andere abzudrucken, was allerdings sehr leicht war, hätte man sich bemühen sollen, die von Agricola gesammelten aber nicht im Druck erschienenen Sprichwörter aus dem Volksmunde aufs neue zu sammeln oder doch einen Ersatz dafür zu suchen. Jedes Jahrhundert, ja jeder noch kürzere Zeitraum im Volksleben hat seine Sprichwörter, und nur der kleinste Theil geht aus dem Volksmunde in die Literatur über; der Nachwelt bleiben aber mit Sicherheit immer nur die erhalten, welche der Zufall durch "Schreibfinger" führt oder unter die Presse bringt, da ein grosser Theil mit dem Geschlecht verschwindet, unter dem sie entstanden sind. Der Volksmund vergangener Jahrhunderte ist unmittelbar nicht mehr auszubeuten, wir können jetzt nur die Sprichwörter sammeln, die in die Literatur übergegangen sind. Für diesen Zweck müssten die bezüglichen Schriftsteller jedes Jahrhunderts sorgfältig gelesen und ausgezogen werden, sodass wir eine Reihe von Quellenschriften erhielten. Wie z. B. Latendorf die Sprichwörter Neander's herausgegeben hat, so müssten die Sprichwörter aus den andern Schriften Franck's, Fischart's, Geiler's, Brant's, Luther's u. s. w. womöglich aus den ältesten Ausgaben unter Angabe derselben ausgezogen, in derselben Schreibart (unter Angabe von Blatt oder Seite) abgedruckt und, wo es zur Erklärung wünschenswerth erscheint, mit einer Belagstelle in kleiner Schrift versehen werden. Es würde die Sprichwörterliteratur wesentlich fördern, wenn ein Buchhändler eine Reihe solcher Sammlungen nach Aehnlichkeit der Scheible'schen veranstaltete und zwar vom 16. Jahrhundert beginnend. Aus den Luther'schen Schriften hat zwar Heuseler (s. Quellenverzeichniss) eine Sprichwörtersammlung ähnlicher Art veranstaltet, aber sie ist bei weitem nicht vollständig genug. Schon die Tischreden bieten mehr; der Abdruck ist nicht treu nach dem Original erfolgt, auch dabei eine Censur geübt, die hier, wo es sich nicht um eine Sammlung für Jugend- und Volksbildung handelt, wo der Zweck vielmehr ein culturgeschichtlicher und sprachlicher ist, nicht geübt werden darf. Für den vorliegenden Zweck wollen wir nicht eine "strenge Auswahl", sondern den Schriftsteller ganz. 1 Schon vor Wagner soll, nach einer Notiz, die ich, so ich nicht irre, in der grossen handschriftlichen Sammlung, die sich im Besitz des Herrn Kreisgerichtsdirector Ottow in Landshut befindet (s. "Fingertuch") gefunden habe, Joh. Christ. Gubitz, Lehrer am Gymnasium zu Schleusingen, ein vollständiges deutsches Sprichwörter-Lexikon unter Händen gehabt haben; darüber aber, wie weit die Arbeit gefördert und wo das Manuscript hingekommen ist, war nichts bemerkt. Wahrscheinlich ist es verloren. Ich vermuthe, dass die Arbeit in die Mitte des 18. Jahrhunderts fallen mag. In Schleusingen liesse sich vielleicht Näheres ermitteln. In derselben handschriftlichen Sammlung findet sich auch mit der Quellenangabe Misc., I, 362, die Bemerkung: "D. Georg Hieronym. Welschius hat ein Opus adagiorum panglottum unter den Händen gehabt, welches er aber nicht zu Stande gebracht." 2 Dies ist nicht blos wahr in Betreff der grossen Anzahl von Sprichwörtern, die wir besitzen, im allgemeinen, sondern auch was die Menge von Formen betrifft, in der wir eine fremde Redensart in unserer Sprache ausdrücken können. Fischart behauptet, man könne das alte: "Gnothi seauton", in vierzig verschiedenen deutschen Redensarten wiedergeben. (Vgl. Harsdörffer, Gesprächspiele, II, 315.)
Schriften zerstreut vorhandenen Sprichwörter geordnet und übersichtlich zusammenstellte. Erst im 19. Jahrhundert erwacht das Bedürfniss nach übersichtlicher Concentrirung mit dem bereits erwähnten Wagner1, der in seinem Deutschen Sprichwörter-Lexikon zuerst den Weg betrat, welcher für Auffindung und Nachträge der einzige richtige und zum Ziel führende ist. Ihm folgten mit mehr oder weniger Strenge in der alphabetischen Anordnung auf diesem Wege, die Zahl von 3730 bis 12396 steigernd, Körte, Eiselein und Simrock. Wie dankbar wir für diese Arbeiten sind und wie gross der Nutzen ist, den sie für ihren Zweck gewähren, so sind sie doch weit entfernt, den deutschen Sprichwörterschatz in strenger Ordnung und möglicher Vollständigkeit darzustellen. Wir Deutschen gleichen nämlich in dieser Beziehung jenen Reichen, die nicht wissen, was sie besitzen, weil sie ihre Güter, die überall zerstreut sind, nie im Zusammenhang überblickt haben.2 Für den Sprichwörterbearbeiter ist die Kenntniss der Quellen das erste Erforderniss. Bei einer so umfassenden Arbeit, wie das Deutsche Sprichwörter-Lexikon ist, habe ich eine dem jetzigen Stande der Literatur entsprechende, d. i. vollständigere und besser eingerichtete Quellenkunde längst als ein dringendes Bedürfniss empfunden; eines Werks, das nicht blos die Titel und Ausgaben solcher Schriften aufzählt, welche unmittelbar und ausschliesslich den Sprichwörtern gewidmet sind, selbst nicht blos alle die, in denen sich kleinere oder grössere Sammlungen befinden, sondern alle, in denen ein Reichthum von Sprichwörtern enthalten, wenn sie auch irgendeinem andern Wissensfach angehören. Hauptsächlich infolge des Umstandes, dass unsere sprichwörtliche Quellenkunde sich auf specifische Sprichwörterschriften beschränkt, sind unsere Sprichwörtersammlungen, von denen man irrigerweise angenommen hat, dass sie den deutschen Sprichwörterschatz darstellen, verhältnissmässig so armselig und weit hinter dem wahren Bestande zurückgeblieben; diejenigen Schriften, die aus der lebendigen Quelle, dem Volksmunde und der Tagesliteratur schöpfen, fehlen darin. Den Mangel dieser Quellenschriften zu überwinden und die Lücken, welche Nopitsch und Zacher auf diesem Gebiet gelassen haben, auszufüllen, hat mir nicht nur viel Zeit und Kraft, sondern auch viel Geldopfer gekostet. Was hätte nun aber geschehen müssen, und was muss geschehen, wenn wir unsern Sprichwörterschatz möglichst vollständig in einem Werke vereinigt überschauen wollen? Was hätte geschehen müssen? Anstatt die Sammlungen des Agricola (vgl. Nopitsch, S. 13-23) und Franck (vgl. Nopitsch, S. 24 fg.) einmal über das andere abzudrucken, was allerdings sehr leicht war, hätte man sich bemühen sollen, die von Agricola gesammelten aber nicht im Druck erschienenen Sprichwörter aus dem Volksmunde aufs neue zu sammeln oder doch einen Ersatz dafür zu suchen. Jedes Jahrhundert, ja jeder noch kürzere Zeitraum im Volksleben hat seine Sprichwörter, und nur der kleinste Theil geht aus dem Volksmunde in die Literatur über; der Nachwelt bleiben aber mit Sicherheit immer nur die erhalten, welche der Zufall durch „Schreibfinger“ führt oder unter die Presse bringt, da ein grosser Theil mit dem Geschlecht verschwindet, unter dem sie entstanden sind. Der Volksmund vergangener Jahrhunderte ist unmittelbar nicht mehr auszubeuten, wir können jetzt nur die Sprichwörter sammeln, die in die Literatur übergegangen sind. Für diesen Zweck müssten die bezüglichen Schriftsteller jedes Jahrhunderts sorgfältig gelesen und ausgezogen werden, sodass wir eine Reihe von Quellenschriften erhielten. Wie z. B. Latendorf die Sprichwörter Neander's herausgegeben hat, so müssten die Sprichwörter aus den andern Schriften Franck's, Fischart's, Geiler's, Brant's, Luther's u. s. w. womöglich aus den ältesten Ausgaben unter Angabe derselben ausgezogen, in derselben Schreibart (unter Angabe von Blatt oder Seite) abgedruckt und, wo es zur Erklärung wünschenswerth erscheint, mit einer Belagstelle in kleiner Schrift versehen werden. Es würde die Sprichwörterliteratur wesentlich fördern, wenn ein Buchhändler eine Reihe solcher Sammlungen nach Aehnlichkeit der Scheible'schen veranstaltete und zwar vom 16. Jahrhundert beginnend. Aus den Luther'schen Schriften hat zwar Heuseler (s. Quellenverzeichniss) eine Sprichwörtersammlung ähnlicher Art veranstaltet, aber sie ist bei weitem nicht vollständig genug. Schon die Tischreden bieten mehr; der Abdruck ist nicht treu nach dem Original erfolgt, auch dabei eine Censur geübt, die hier, wo es sich nicht um eine Sammlung für Jugend- und Volksbildung handelt, wo der Zweck vielmehr ein culturgeschichtlicher und sprachlicher ist, nicht geübt werden darf. Für den vorliegenden Zweck wollen wir nicht eine „strenge Auswahl“, sondern den Schriftsteller ganz. 1 Schon vor Wagner soll, nach einer Notiz, die ich, so ich nicht irre, in der grossen handschriftlichen Sammlung, die sich im Besitz des Herrn Kreisgerichtsdirector Ottow in Landshut befindet (s. „Fingertuch“) gefunden habe, Joh. Christ. Gubitz, Lehrer am Gymnasium zu Schleusingen, ein vollständiges deutsches Sprichwörter-Lexikon unter Händen gehabt haben; darüber aber, wie weit die Arbeit gefördert und wo das Manuscript hingekommen ist, war nichts bemerkt. Wahrscheinlich ist es verloren. Ich vermuthe, dass die Arbeit in die Mitte des 18. Jahrhunderts fallen mag. In Schleusingen liesse sich vielleicht Näheres ermitteln. In derselben handschriftlichen Sammlung findet sich auch mit der Quellenangabe Misc., I, 362, die Bemerkung: „D. Georg Hieronym. Welschius hat ein Opus adagiorum panglottum unter den Händen gehabt, welches er aber nicht zu Stande gebracht.“ 2 Dies ist nicht blos wahr in Betreff der grossen Anzahl von Sprichwörtern, die wir besitzen, im allgemeinen, sondern auch was die Menge von Formen betrifft, in der wir eine fremde Redensart in unserer Sprache ausdrücken können. Fischart behauptet, man könne das alte: „Γνῶϑι σεαυτόν“, in vierzig verschiedenen deutschen Redensarten wiedergeben. (Vgl. Harsdörffer, Gesprächspiele, II, 315.)
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Für diesen Zweck müssten die bezüglichen Schriftsteller jedes Jahrhunderts sorgfältig gelesen und ausgezogen werden, sodass wir eine Reihe von Quellenschriften erhielten. Wie z. B. Latendorf die Sprichwörter Neander's herausgegeben hat, so müssten die Sprichwörter aus den andern Schriften Franck's, Fischart's, Geiler's, Brant's, Luther's u. s. w. womöglich aus den ältesten Ausgaben unter Angabe derselben ausgezogen, in derselben Schreibart (unter Angabe von Blatt oder Seite) abgedruckt und, wo es zur Erklärung wünschenswerth erscheint, mit einer Belagstelle in kleiner Schrift versehen werden. Es würde die Sprichwörterliteratur wesentlich fördern, wenn ein Buchhändler eine Reihe solcher Sammlungen nach Aehnlichkeit der Scheible'schen veranstaltete und zwar vom 16. Jahrhundert beginnend. Aus den Luther'schen Schriften hat zwar Heuseler (s. <hi rendition="#i">Quellenverzeichniss</hi>) eine Sprichwörtersammlung ähnlicher Art veranstaltet, aber sie ist bei weitem nicht vollständig genug. 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Schriften zerstreut vorhandenen Sprichwörter geordnet und übersichtlich zusammenstellte. Erst im 19. Jahrhundert erwacht das Bedürfniss nach übersichtlicher Concentrirung mit dem bereits erwähnten Wagner 1, der in seinem Deutschen Sprichwörter-Lexikon zuerst den Weg betrat, welcher für Auffindung und Nachträge der einzige richtige und zum Ziel führende ist. Ihm folgten mit mehr oder weniger Strenge in der alphabetischen Anordnung auf diesem Wege, die Zahl von 3730 bis 12396 steigernd, Körte, Eiselein und Simrock. Wie dankbar wir für diese Arbeiten sind und wie gross der Nutzen ist, den sie für ihren Zweck gewähren, so sind sie doch weit entfernt, den deutschen Sprichwörterschatz in strenger Ordnung und möglicher Vollständigkeit darzustellen.
Wir Deutschen gleichen nämlich in dieser Beziehung jenen Reichen, die nicht wissen, was sie besitzen, weil sie ihre Güter, die überall zerstreut sind, nie im Zusammenhang überblickt haben. 2
Für den Sprichwörterbearbeiter ist die Kenntniss der Quellen das erste Erforderniss. Bei einer so umfassenden Arbeit, wie das Deutsche Sprichwörter-Lexikon ist, habe ich eine dem jetzigen Stande der Literatur entsprechende, d. i. vollständigere und besser eingerichtete Quellenkunde längst als ein dringendes Bedürfniss empfunden; eines Werks, das nicht blos die Titel und Ausgaben solcher Schriften aufzählt, welche unmittelbar und ausschliesslich den Sprichwörtern gewidmet sind, selbst nicht blos alle die, in denen sich kleinere oder grössere Sammlungen befinden, sondern alle, in denen ein Reichthum von Sprichwörtern enthalten, wenn sie auch irgendeinem andern Wissensfach angehören.
Hauptsächlich infolge des Umstandes, dass unsere sprichwörtliche Quellenkunde sich auf specifische Sprichwörterschriften beschränkt, sind unsere Sprichwörtersammlungen, von denen man irrigerweise angenommen hat, dass sie den deutschen Sprichwörterschatz darstellen, verhältnissmässig so armselig und weit hinter dem wahren Bestande zurückgeblieben; diejenigen Schriften, die aus der lebendigen Quelle, dem Volksmunde und der Tagesliteratur schöpfen, fehlen darin.
Den Mangel dieser Quellenschriften zu überwinden und die Lücken, welche Nopitsch und Zacher auf diesem Gebiet gelassen haben, auszufüllen, hat mir nicht nur viel Zeit und Kraft, sondern auch viel Geldopfer gekostet.
Was hätte nun aber geschehen müssen, und was muss geschehen, wenn wir unsern Sprichwörterschatz möglichst vollständig in einem Werke vereinigt überschauen wollen?
Was hätte geschehen müssen? Anstatt die Sammlungen des Agricola (vgl. Nopitsch, S. 13-23) und Franck (vgl. Nopitsch, S. 24 fg.) einmal über das andere abzudrucken, was allerdings sehr leicht war, hätte man sich bemühen sollen, die von Agricola gesammelten aber nicht im Druck erschienenen Sprichwörter aus dem Volksmunde aufs neue zu sammeln oder doch einen Ersatz dafür zu suchen. Jedes Jahrhundert, ja jeder noch kürzere Zeitraum im Volksleben hat seine Sprichwörter, und nur der kleinste Theil geht aus dem Volksmunde in die Literatur über; der Nachwelt bleiben aber mit Sicherheit immer nur die erhalten, welche der Zufall durch „Schreibfinger“ führt oder unter die Presse bringt, da ein grosser Theil mit dem Geschlecht verschwindet, unter dem sie entstanden sind. Der Volksmund vergangener Jahrhunderte ist unmittelbar nicht mehr auszubeuten, wir können jetzt nur die Sprichwörter sammeln, die in die Literatur übergegangen sind. Für diesen Zweck müssten die bezüglichen Schriftsteller jedes Jahrhunderts sorgfältig gelesen und ausgezogen werden, sodass wir eine Reihe von Quellenschriften erhielten. Wie z. B. Latendorf die Sprichwörter Neander's herausgegeben hat, so müssten die Sprichwörter aus den andern Schriften Franck's, Fischart's, Geiler's, Brant's, Luther's u. s. w. womöglich aus den ältesten Ausgaben unter Angabe derselben ausgezogen, in derselben Schreibart (unter Angabe von Blatt oder Seite) abgedruckt und, wo es zur Erklärung wünschenswerth erscheint, mit einer Belagstelle in kleiner Schrift versehen werden. Es würde die Sprichwörterliteratur wesentlich fördern, wenn ein Buchhändler eine Reihe solcher Sammlungen nach Aehnlichkeit der Scheible'schen veranstaltete und zwar vom 16. Jahrhundert beginnend. Aus den Luther'schen Schriften hat zwar Heuseler (s. Quellenverzeichniss) eine Sprichwörtersammlung ähnlicher Art veranstaltet, aber sie ist bei weitem nicht vollständig genug. Schon die Tischreden bieten mehr; der Abdruck ist nicht treu nach dem Original erfolgt, auch dabei eine Censur geübt, die hier, wo es sich nicht um eine Sammlung für Jugend- und Volksbildung handelt, wo der Zweck vielmehr ein culturgeschichtlicher und sprachlicher ist, nicht geübt werden darf. Für den vorliegenden Zweck wollen wir nicht eine „strenge Auswahl“, sondern den Schriftsteller ganz.
1 Schon vor Wagner soll, nach einer Notiz, die ich, so ich nicht irre, in der grossen handschriftlichen Sammlung, die sich im Besitz des Herrn Kreisgerichtsdirector Ottow in Landshut befindet (s. „Fingertuch“) gefunden habe, Joh. Christ. Gubitz, Lehrer am Gymnasium zu Schleusingen, ein vollständiges deutsches Sprichwörter-Lexikon unter Händen gehabt haben; darüber aber, wie weit die Arbeit gefördert und wo das Manuscript hingekommen ist, war nichts bemerkt. Wahrscheinlich ist es verloren. Ich vermuthe, dass die Arbeit in die Mitte des 18. Jahrhunderts fallen mag. In Schleusingen liesse sich vielleicht Näheres ermitteln. In derselben handschriftlichen Sammlung findet sich auch mit der Quellenangabe Misc., I, 362, die Bemerkung: „D. Georg Hieronym. Welschius hat ein Opus adagiorum panglottum unter den Händen gehabt, welches er aber nicht zu Stande gebracht.“
2 Dies ist nicht blos wahr in Betreff der grossen Anzahl von Sprichwörtern, die wir besitzen, im allgemeinen, sondern auch was die Menge von Formen betrifft, in der wir eine fremde Redensart in unserer Sprache ausdrücken können. Fischart behauptet, man könne das alte: „Γνῶϑι σεαυτόν“, in vierzig verschiedenen deutschen Redensarten wiedergeben. (Vgl. Harsdörffer, Gesprächspiele, II, 315.)
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