Jch ging fast zu derselben Stunde ab, in der der Graf abreiste, um in die Residenz zurückzukeh- ren. Seine Freigebigkeit gegen mich war so groß gewesen, daß ich ziemlich bequem reisen konnte, auch stieß mir unterweges nichts neues auf, was dem Leser mitgetheilt zu werden verdiente, als das Zusammentreffen mit meiner treulosen Rike.
Jch blieb in keiner der Städte, die ich paßiren muste, länger als eine Nacht oder höchstens noch einen Tag, wenn es meine Schwächlichkeit verläng- te; dieß war der Fall in einer sehr großen und volk- reichen Stadt, in der ich zu einer andern Zeit lan- ge verweilt haben würde, um Vergnügungen jeder Art aufzusuchen. Jch befand mich sehr [ü]bel und schlich in eine Apotheke, um mir Medicin, zu wel- cher ich das Recept bei mir hatte, aufs neue machen zu lassen. Unterweges begegnete mir eine herrlich geputzte Dame, ich erkannte in ihr Riken, und wu- ste nicht, sollte ich mich der Freude des Wiederse- hens meiner Geliebten oder des Ertappens meiner Spitzbübinn überlassen, und demnach ihr entweder um den Hals fallen oder sie festhalten und nach Hül- fe der Polizeidiener schreien? Zu beiden war ich zu schwach und zu unentschlossen. Doch Rike selbst war es, die mich aus diesem zweifelhaften Zustande riß. Sie reichte mir mit den Worten die Hand: "Seh ich recht, sind Sie es, Herr Schnitzer? O kommen Sie doch gleich zu mir."
Jch(ihr die Hand wegziehend). Wie kann sich eine so schlechte Kreatur unterfangen, einen Menschen, den sie bestohlen, noch so dreust anzure- den? Jch werde sogleich -- --
Rike.St! Mein Herzchen, 's kann alles nichts helfen, ich bin hier im Schutz der Vornehm- sten, habe ein privilegirtes Bordell und kann beste- chen, du behältst Unrecht -- Komm lieber und ju- ble mit, es soll dir nichts abgehn.
Jch
Jch ging faſt zu derſelben Stunde ab, in der der Graf abreiſte, um in die Reſidenz zuruͤckzukeh- ren. Seine Freigebigkeit gegen mich war ſo groß geweſen, daß ich ziemlich bequem reiſen konnte, auch ſtieß mir unterweges nichts neues auf, was dem Leſer mitgetheilt zu werden verdiente, als das Zuſammentreffen mit meiner treuloſen Rike.
Jch blieb in keiner der Staͤdte, die ich paßiren muſte, laͤnger als eine Nacht oder hoͤchſtens noch einen Tag, wenn es meine Schwaͤchlichkeit verlaͤng- te; dieß war der Fall in einer ſehr großen und volk- reichen Stadt, in der ich zu einer andern Zeit lan- ge verweilt haben wuͤrde, um Vergnuͤgungen jeder Art aufzuſuchen. Jch befand mich ſehr [uͤ]bel und ſchlich in eine Apotheke, um mir Medicin, zu wel- cher ich das Recept bei mir hatte, aufs neue machen zu laſſen. Unterweges begegnete mir eine herrlich geputzte Dame, ich erkannte in ihr Riken, und wu- ſte nicht, ſollte ich mich der Freude des Wiederſe- hens meiner Geliebten oder des Ertappens meiner Spitzbuͤbinn uͤberlaſſen, und demnach ihr entweder um den Hals fallen oder ſie feſthalten und nach Huͤl- fe der Polizeidiener ſchreien? Zu beiden war ich zu ſchwach und zu unentſchloſſen. Doch Rike ſelbſt war es, die mich aus dieſem zweifelhaften Zuſtande riß. Sie reichte mir mit den Worten die Hand: „Seh ich recht, ſind Sie es, Herr Schnitzer? O kommen Sie doch gleich zu mir.“
Jch(ihr die Hand wegziehend). Wie kann ſich eine ſo ſchlechte Kreatur unterfangen, einen Menſchen, den ſie beſtohlen, noch ſo dreuſt anzure- den? Jch werde ſogleich — —
Rike.St! Mein Herzchen, ’s kann alles nichts helfen, ich bin hier im Schutz der Vornehm- ſten, habe ein privilegirtes Bordell und kann beſte- chen, du behaͤltſt Unrecht — Komm lieber und ju- ble mit, es ſoll dir nichts abgehn.
Jch
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0494"n="490"/><p>Jch ging faſt zu derſelben Stunde ab, in der<lb/>
der Graf abreiſte, um in die Reſidenz zuruͤckzukeh-<lb/>
ren. Seine Freigebigkeit gegen mich war ſo groß<lb/>
geweſen, daß ich ziemlich bequem reiſen konnte,<lb/>
auch ſtieß mir unterweges nichts neues auf, was<lb/>
dem Leſer mitgetheilt zu werden verdiente, als das<lb/>
Zuſammentreffen mit meiner treuloſen Rike.</p><lb/><p>Jch blieb in keiner der Staͤdte, die ich paßiren<lb/>
muſte, laͤnger als eine Nacht oder hoͤchſtens noch<lb/>
einen Tag, wenn es meine Schwaͤchlichkeit verlaͤng-<lb/>
te; dieß war der Fall in einer ſehr großen und volk-<lb/>
reichen Stadt, in der ich zu einer andern Zeit lan-<lb/>
ge verweilt haben wuͤrde, um Vergnuͤgungen jeder<lb/>
Art aufzuſuchen. Jch befand mich ſehr <supplied>uͤ</supplied>bel und<lb/>ſchlich in eine Apotheke, um mir Medicin, zu wel-<lb/>
cher ich das Recept bei mir hatte, aufs neue machen<lb/>
zu laſſen. Unterweges begegnete mir eine herrlich<lb/>
geputzte Dame, ich erkannte in ihr Riken, und wu-<lb/>ſte nicht, ſollte ich mich der Freude des Wiederſe-<lb/>
hens meiner Geliebten oder des Ertappens meiner<lb/>
Spitzbuͤbinn uͤberlaſſen, und demnach ihr entweder<lb/>
um den Hals fallen oder ſie feſthalten und nach Huͤl-<lb/>
fe der Polizeidiener ſchreien? Zu beiden war ich<lb/>
zu ſchwach und zu unentſchloſſen. Doch Rike ſelbſt<lb/>
war es, die mich aus dieſem zweifelhaften Zuſtande<lb/>
riß. Sie reichte mir mit den Worten die Hand:<lb/>„Seh ich recht, ſind Sie es, Herr Schnitzer? O<lb/>
kommen Sie doch gleich zu mir.“</p><lb/><spwho="#JCH"><speaker><hirendition="#g">Jch</hi></speaker><p>(ihr die Hand wegziehend). Wie kann<lb/>ſich eine ſo ſchlechte Kreatur unterfangen, einen<lb/>
Menſchen, den ſie beſtohlen, noch ſo dreuſt anzure-<lb/>
den? Jch werde ſogleich ——</p></sp><lb/><spwho="#RIK"><speaker><hirendition="#g">Rike.</hi></speaker><p>St! Mein Herzchen, ’s kann alles<lb/>
nichts helfen, ich bin hier im Schutz der Vornehm-<lb/>ſten, habe ein privilegirtes Bordell und kann beſte-<lb/>
chen, du behaͤltſt Unrecht — Komm lieber und ju-<lb/>
ble mit, es ſoll dir nichts abgehn.</p><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Jch</fw><lb/></sp></div></body></text></TEI>
[490/0494]
Jch ging faſt zu derſelben Stunde ab, in der
der Graf abreiſte, um in die Reſidenz zuruͤckzukeh-
ren. Seine Freigebigkeit gegen mich war ſo groß
geweſen, daß ich ziemlich bequem reiſen konnte,
auch ſtieß mir unterweges nichts neues auf, was
dem Leſer mitgetheilt zu werden verdiente, als das
Zuſammentreffen mit meiner treuloſen Rike.
Jch blieb in keiner der Staͤdte, die ich paßiren
muſte, laͤnger als eine Nacht oder hoͤchſtens noch
einen Tag, wenn es meine Schwaͤchlichkeit verlaͤng-
te; dieß war der Fall in einer ſehr großen und volk-
reichen Stadt, in der ich zu einer andern Zeit lan-
ge verweilt haben wuͤrde, um Vergnuͤgungen jeder
Art aufzuſuchen. Jch befand mich ſehr uͤbel und
ſchlich in eine Apotheke, um mir Medicin, zu wel-
cher ich das Recept bei mir hatte, aufs neue machen
zu laſſen. Unterweges begegnete mir eine herrlich
geputzte Dame, ich erkannte in ihr Riken, und wu-
ſte nicht, ſollte ich mich der Freude des Wiederſe-
hens meiner Geliebten oder des Ertappens meiner
Spitzbuͤbinn uͤberlaſſen, und demnach ihr entweder
um den Hals fallen oder ſie feſthalten und nach Huͤl-
fe der Polizeidiener ſchreien? Zu beiden war ich
zu ſchwach und zu unentſchloſſen. Doch Rike ſelbſt
war es, die mich aus dieſem zweifelhaften Zuſtande
riß. Sie reichte mir mit den Worten die Hand:
„Seh ich recht, ſind Sie es, Herr Schnitzer? O
kommen Sie doch gleich zu mir.“
Jch (ihr die Hand wegziehend). Wie kann
ſich eine ſo ſchlechte Kreatur unterfangen, einen
Menſchen, den ſie beſtohlen, noch ſo dreuſt anzure-
den? Jch werde ſogleich — —
Rike. St! Mein Herzchen, ’s kann alles
nichts helfen, ich bin hier im Schutz der Vornehm-
ſten, habe ein privilegirtes Bordell und kann beſte-
chen, du behaͤltſt Unrecht — Komm lieber und ju-
ble mit, es ſoll dir nichts abgehn.
Jch
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Wallenrodt, Johanna Isabella Eleonore von: Fritz, der Mann wie er nicht seyn sollte oder die Folgen einer übeln Erziehung. Bd. 2. Gera, 1800, S. 490. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wallenrodt_fritz02_1800/494>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.