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Robert, Waldmüller [d. i. Charles Edouard Duboc]: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 203–295. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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fremde Sache zu Herzen genommen, ohne dazu berufen zu sein. Aber die Wittwe nöthigte ihn ins Haus und in die Fremdenstube. Sie habe Niemanden, der ihr rathe, sagte sie, den Küster zum Sitzen einladend, und da komme Eins über das Andere -- sie wisse gar nicht mehr aus noch ein. Ein Mann habe Erfahrungen mancher Art und könne sich durch Formen und Geschäfte durchhelfen. Was verstehe sie davon? Sie habe schon mehrere Male daran gedacht, ihn über die Nachlaßbesorgungen befragen zu wollen -- warum es unterblieb, sagte sie nicht -- er könne ihr einen großen Dienst leisten, wenn er zu ihren Angelegenheiten schauen wolle. Es liege wie ein Alp auf ihr. Sie möchte am liebsten auf und davon gehen -- setzte sie, die letzte Fassung verlierend, hinzu und bedeckte ihre Augen mit der Schürze, aufgeregt und erleichtert zugleich durch das begonnene Aufschließen ihres Innern, von welchem seit einem Jahr und wohl noch eine gute Weile länger der Riegel nicht zurückgezogen worden war.

Der Küster schlug die Augen nieder, völlig unfähig, sich in die ihm plötzlich aufgenöthigte Stellung zu finden. Nie war ihm etwas Aehnliches begegnet. Die Wittwe seines ehemaligen Vorgesetzten in Thränen, rathlos, ihm sich ausschließend, ihm, der sich vor Zeiten und noch vor einer Viertelstunde kaum getraute in ihrer Gegenwart niederzusitzen, nicht etwa weil sie hochmüthig oder herrisch gegen ihn gewesen wäre, aber um eines von ihm empfundenen Abstandes willen, über den er selbst nie ganz

fremde Sache zu Herzen genommen, ohne dazu berufen zu sein. Aber die Wittwe nöthigte ihn ins Haus und in die Fremdenstube. Sie habe Niemanden, der ihr rathe, sagte sie, den Küster zum Sitzen einladend, und da komme Eins über das Andere — sie wisse gar nicht mehr aus noch ein. Ein Mann habe Erfahrungen mancher Art und könne sich durch Formen und Geschäfte durchhelfen. Was verstehe sie davon? Sie habe schon mehrere Male daran gedacht, ihn über die Nachlaßbesorgungen befragen zu wollen — warum es unterblieb, sagte sie nicht — er könne ihr einen großen Dienst leisten, wenn er zu ihren Angelegenheiten schauen wolle. Es liege wie ein Alp auf ihr. Sie möchte am liebsten auf und davon gehen — setzte sie, die letzte Fassung verlierend, hinzu und bedeckte ihre Augen mit der Schürze, aufgeregt und erleichtert zugleich durch das begonnene Aufschließen ihres Innern, von welchem seit einem Jahr und wohl noch eine gute Weile länger der Riegel nicht zurückgezogen worden war.

Der Küster schlug die Augen nieder, völlig unfähig, sich in die ihm plötzlich aufgenöthigte Stellung zu finden. Nie war ihm etwas Aehnliches begegnet. Die Wittwe seines ehemaligen Vorgesetzten in Thränen, rathlos, ihm sich ausschließend, ihm, der sich vor Zeiten und noch vor einer Viertelstunde kaum getraute in ihrer Gegenwart niederzusitzen, nicht etwa weil sie hochmüthig oder herrisch gegen ihn gewesen wäre, aber um eines von ihm empfundenen Abstandes willen, über den er selbst nie ganz

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[0039] fremde Sache zu Herzen genommen, ohne dazu berufen zu sein. Aber die Wittwe nöthigte ihn ins Haus und in die Fremdenstube. Sie habe Niemanden, der ihr rathe, sagte sie, den Küster zum Sitzen einladend, und da komme Eins über das Andere — sie wisse gar nicht mehr aus noch ein. Ein Mann habe Erfahrungen mancher Art und könne sich durch Formen und Geschäfte durchhelfen. Was verstehe sie davon? Sie habe schon mehrere Male daran gedacht, ihn über die Nachlaßbesorgungen befragen zu wollen — warum es unterblieb, sagte sie nicht — er könne ihr einen großen Dienst leisten, wenn er zu ihren Angelegenheiten schauen wolle. Es liege wie ein Alp auf ihr. Sie möchte am liebsten auf und davon gehen — setzte sie, die letzte Fassung verlierend, hinzu und bedeckte ihre Augen mit der Schürze, aufgeregt und erleichtert zugleich durch das begonnene Aufschließen ihres Innern, von welchem seit einem Jahr und wohl noch eine gute Weile länger der Riegel nicht zurückgezogen worden war. Der Küster schlug die Augen nieder, völlig unfähig, sich in die ihm plötzlich aufgenöthigte Stellung zu finden. Nie war ihm etwas Aehnliches begegnet. Die Wittwe seines ehemaligen Vorgesetzten in Thränen, rathlos, ihm sich ausschließend, ihm, der sich vor Zeiten und noch vor einer Viertelstunde kaum getraute in ihrer Gegenwart niederzusitzen, nicht etwa weil sie hochmüthig oder herrisch gegen ihn gewesen wäre, aber um eines von ihm empfundenen Abstandes willen, über den er selbst nie ganz

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T12:58:19Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T12:58:19Z)

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Zitationshilfe: Robert, Waldmüller [d. i. Charles Edouard Duboc]: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 203–295. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waldmueller_allein_1910/39>, abgerufen am 24.11.2024.