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Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 2. Stuttgart, 1823.

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kein Stand, kein Rang: die angebor'ne Stärke
siegte. Da waren sie Menschen im vollen Sinn,
Kinder der allbeseelten Natur, frey wie der Vogel
in den Lüften und lebenskräftig wie die frischbe-
thaute Blume. Da entstand jener Gemeingeist, der
Alle beseelte. Das ist der Fehler unserer Zeit, daß
der Einzelne sich trennet vom Einzelnen und dar-
um nie ein Ganzes waltet. Würde Jeder sich selbst
vergessen und Alle zusammenwirken zu Einem
Zwecke, da würde ein Volk entstehen, groß wie das
untergegangene und stark genug, den Erbfeind zu
zernichten. Darum sollen sich unsere Jünglinge
üben in jenen Spielen, die Geist und Körper stär-
ken, und das wird der Keim seyn, aus dem der
ewigkräftige Heldensinn entsproßt, jenes Zusam-
menweben Aller für Eines.

Unterdessen waren wir nach Misitra gelangt.
Laßt uns vorher zu meiner Tochter gehen, sagte
Hilarion, indem er auf ein Haus deutete, das nahe
vor uns stand. Sie lebt hier bey einem Verwand-
ten. Sie ist die Aeltere.

Hier lernt' ich Cäcilien kennen, die du für
deine Mutter hieltest, Atalanta!

kein Stand, kein Rang: die angebor’ne Staͤrke
ſiegte. Da waren ſie Menſchen im vollen Sinn,
Kinder der allbeſeelten Natur, frey wie der Vogel
in den Luͤften und lebenskraͤftig wie die friſchbe-
thaute Blume. Da entſtand jener Gemeingeiſt, der
Alle beſeelte. Das iſt der Fehler unſerer Zeit, daß
der Einzelne ſich trennet vom Einzelnen und dar-
um nie ein Ganzes waltet. Wuͤrde Jeder ſich ſelbſt
vergeſſen und Alle zuſammenwirken zu Einem
Zwecke, da wuͤrde ein Volk entſtehen, groß wie das
untergegangene und ſtark genug, den Erbfeind zu
zernichten. Darum ſollen ſich unſere Juͤnglinge
uͤben in jenen Spielen, die Geiſt und Koͤrper ſtaͤr-
ken, und das wird der Keim ſeyn, aus dem der
ewigkraͤftige Heldenſinn entſproßt, jenes Zuſam-
menweben Aller fuͤr Eines.

Unterdeſſen waren wir nach Miſitra gelangt.
Laßt uns vorher zu meiner Tochter gehen, ſagte
Hilarion, indem er auf ein Haus deutete, das nahe
vor uns ſtand. Sie lebt hier bey einem Verwand-
ten. Sie iſt die Aeltere.

Hier lernt’ ich Caͤcilien kennen, die du fuͤr
deine Mutter hielteſt, Atalanta!

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[37/0037] kein Stand, kein Rang: die angebor’ne Staͤrke ſiegte. Da waren ſie Menſchen im vollen Sinn, Kinder der allbeſeelten Natur, frey wie der Vogel in den Luͤften und lebenskraͤftig wie die friſchbe- thaute Blume. Da entſtand jener Gemeingeiſt, der Alle beſeelte. Das iſt der Fehler unſerer Zeit, daß der Einzelne ſich trennet vom Einzelnen und dar- um nie ein Ganzes waltet. Wuͤrde Jeder ſich ſelbſt vergeſſen und Alle zuſammenwirken zu Einem Zwecke, da wuͤrde ein Volk entſtehen, groß wie das untergegangene und ſtark genug, den Erbfeind zu zernichten. Darum ſollen ſich unſere Juͤnglinge uͤben in jenen Spielen, die Geiſt und Koͤrper ſtaͤr- ken, und das wird der Keim ſeyn, aus dem der ewigkraͤftige Heldenſinn entſproßt, jenes Zuſam- menweben Aller fuͤr Eines. Unterdeſſen waren wir nach Miſitra gelangt. Laßt uns vorher zu meiner Tochter gehen, ſagte Hilarion, indem er auf ein Haus deutete, das nahe vor uns ſtand. Sie lebt hier bey einem Verwand- ten. Sie iſt die Aeltere. Hier lernt’ ich Caͤcilien kennen, die du fuͤr deine Mutter hielteſt, Atalanta!

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Zitationshilfe: Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 2. Stuttgart, 1823, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton02_1823/37>, abgerufen am 29.03.2024.