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Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 2. Stuttgart, 1823.

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Jch kam durch's Dorf T... Hier besucht' ich
den wahnsinnigen Phaethon, der in der ganzen
Umgegend bekannt ist.

Wir waren einst Jugendfreunde. Sein hoher
strebender Geist, sein edler kräftiger Sinn, sein
heißes Herz, selbst seine körperliche Schönheit
macht' ihm alle Herzen gewogen. Geliebt, geach-
tet ward er, wohin er kam.

Uns allen war er ein Räthsel. Er galt für
einen Schwärmer. Jmmer klagt' er über tausend-
erley Dinge, wollte alles in größerm Maaße; als
wir begreifen, als wir geben konnten. Mit unse-
rer Freundschaft war er nie zufrieden. Das wolle
nichts heißen; wir sollten ihn viel glühender lieben.

O denke dir den schönen wunderbaren Jüng-
ling mit den blauen Augen, dem blassen lieben An-
gesicht, den langen braunen Locken! Denke dir ihn
zurück!

Seine Geschichte ist dir bekannt. Laß dir er-
zählen und schaud're, wie ich ihn traf.

Jch stieg eine enge steinerne Treppe hinab, die
von einem kleinen Bergabhang zu einem einsamen
Tischlerhause führte. Da sollt' er wohnen! Jch

Jch kam durch’s Dorf T… Hier beſucht’ ich
den wahnſinnigen Phaethon, der in der ganzen
Umgegend bekannt iſt.

Wir waren einſt Jugendfreunde. Sein hoher
ſtrebender Geiſt, ſein edler kraͤftiger Sinn, ſein
heißes Herz, ſelbſt ſeine koͤrperliche Schoͤnheit
macht’ ihm alle Herzen gewogen. Geliebt, geach-
tet ward er, wohin er kam.

Uns allen war er ein Raͤthſel. Er galt fuͤr
einen Schwaͤrmer. Jmmer klagt’ er uͤber tauſend-
erley Dinge, wollte alles in groͤßerm Maaße; als
wir begreifen, als wir geben konnten. Mit unſe-
rer Freundſchaft war er nie zufrieden. Das wolle
nichts heißen; wir ſollten ihn viel gluͤhender lieben.

O denke dir den ſchoͤnen wunderbaren Juͤng-
ling mit den blauen Augen, dem blaſſen lieben An-
geſicht, den langen braunen Locken! Denke dir ihn
zuruͤck!

Seine Geſchichte iſt dir bekannt. Laß dir er-
zaͤhlen und ſchaud’re, wie ich ihn traf.

Jch ſtieg eine enge ſteinerne Treppe hinab, die
von einem kleinen Bergabhang zu einem einſamen
Tiſchlerhauſe fuͤhrte. Da ſollt’ er wohnen! Jch

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[158/0158] Jch kam durch’s Dorf T… Hier beſucht’ ich den wahnſinnigen Phaethon, der in der ganzen Umgegend bekannt iſt. Wir waren einſt Jugendfreunde. Sein hoher ſtrebender Geiſt, ſein edler kraͤftiger Sinn, ſein heißes Herz, ſelbſt ſeine koͤrperliche Schoͤnheit macht’ ihm alle Herzen gewogen. Geliebt, geach- tet ward er, wohin er kam. Uns allen war er ein Raͤthſel. Er galt fuͤr einen Schwaͤrmer. Jmmer klagt’ er uͤber tauſend- erley Dinge, wollte alles in groͤßerm Maaße; als wir begreifen, als wir geben konnten. Mit unſe- rer Freundſchaft war er nie zufrieden. Das wolle nichts heißen; wir ſollten ihn viel gluͤhender lieben. O denke dir den ſchoͤnen wunderbaren Juͤng- ling mit den blauen Augen, dem blaſſen lieben An- geſicht, den langen braunen Locken! Denke dir ihn zuruͤck! Seine Geſchichte iſt dir bekannt. Laß dir er- zaͤhlen und ſchaud’re, wie ich ihn traf. Jch ſtieg eine enge ſteinerne Treppe hinab, die von einem kleinen Bergabhang zu einem einſamen Tiſchlerhauſe fuͤhrte. Da ſollt’ er wohnen! Jch

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Zitationshilfe: Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 2. Stuttgart, 1823, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton02_1823/158>, abgerufen am 03.05.2024.