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Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 2. Stuttgart, 1823.

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stehen, faßt' ihn, hob ihn auf, drückt' ihn weinend
an meinen Busen, küßte seine vollen, unschuldigen
Wangen und stammelte: Bete! Ach! und ... er
betete! so klar! so innig! so harmlos! als kennt'
er ihn, zu dem er betete, als fühlt' er seine Nähe!
Und mich! wie er mich ansah! Jch ließ ihn sinken,
als dürft' ich ihn nicht anhauchen, das reine, gott-
befreundete Wesen.

Theodor! wär' ich einmal frey, und hielte
mich die Erde nicht mehr an sich, die Erde, die ich
nicht lieben kann, dann stürzt' ich in den leeren
Raum, der sich ausdehnt zwischen den wandelnden
Welten des Schöpfers, dann stürzt' ich ewig, von
einem Weltsystem in's andere ... vorüber an allen
Millionen Sonnen und Monden ... begegnete den
Kometen, die vor Jahrtausenden sich unserer Erde
näherten, die in Jahrtausenden noch kommen wer-
den ... Bruder! ewig, ewig würd' ich taumeln und
fallen, und kein Ufer, keinen Grund, keine Gränze
finden .. immer tiefer und immer weiter und doch
kein Ende .. Jahrtausende stürzen durch's All, und
doch kein Ende! ..



8 *

ſtehen, faßt’ ihn, hob ihn auf, druͤckt’ ihn weinend
an meinen Buſen, kuͤßte ſeine vollen, unſchuldigen
Wangen und ſtammelte: Bete! Ach! und … er
betete! ſo klar! ſo innig! ſo harmlos! als kennt’
er ihn, zu dem er betete, als fuͤhlt’ er ſeine Naͤhe!
Und mich! wie er mich anſah! Jch ließ ihn ſinken,
als duͤrft’ ich ihn nicht anhauchen, das reine, gott-
befreundete Weſen.

Theodor! waͤr’ ich einmal frey, und hielte
mich die Erde nicht mehr an ſich, die Erde, die ich
nicht lieben kann, dann ſtuͤrzt’ ich in den leeren
Raum, der ſich ausdehnt zwiſchen den wandelnden
Welten des Schoͤpfers, dann ſtuͤrzt’ ich ewig, von
einem Weltſyſtem in’s andere … voruͤber an allen
Millionen Sonnen und Monden … begegnete den
Kometen, die vor Jahrtauſenden ſich unſerer Erde
naͤherten, die in Jahrtauſenden noch kommen wer-
den … Bruder! ewig, ewig wuͤrd’ ich taumeln und
fallen, und kein Ufer, keinen Grund, keine Graͤnze
finden .. immer tiefer und immer weiter und doch
kein Ende .. Jahrtauſende ſtuͤrzen durch’s All, und
doch kein Ende! ..



8 *
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[115/0115] ſtehen, faßt’ ihn, hob ihn auf, druͤckt’ ihn weinend an meinen Buſen, kuͤßte ſeine vollen, unſchuldigen Wangen und ſtammelte: Bete! Ach! und … er betete! ſo klar! ſo innig! ſo harmlos! als kennt’ er ihn, zu dem er betete, als fuͤhlt’ er ſeine Naͤhe! Und mich! wie er mich anſah! Jch ließ ihn ſinken, als duͤrft’ ich ihn nicht anhauchen, das reine, gott- befreundete Weſen. Theodor! waͤr’ ich einmal frey, und hielte mich die Erde nicht mehr an ſich, die Erde, die ich nicht lieben kann, dann ſtuͤrzt’ ich in den leeren Raum, der ſich ausdehnt zwiſchen den wandelnden Welten des Schoͤpfers, dann ſtuͤrzt’ ich ewig, von einem Weltſyſtem in’s andere … voruͤber an allen Millionen Sonnen und Monden … begegnete den Kometen, die vor Jahrtauſenden ſich unſerer Erde naͤherten, die in Jahrtauſenden noch kommen wer- den … Bruder! ewig, ewig wuͤrd’ ich taumeln und fallen, und kein Ufer, keinen Grund, keine Graͤnze finden .. immer tiefer und immer weiter und doch kein Ende .. Jahrtauſende ſtuͤrzen durch’s All, und doch kein Ende! .. 8 *

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Zitationshilfe: Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 2. Stuttgart, 1823, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton02_1823/115>, abgerufen am 24.11.2024.