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Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 1. Stuttgart, 1823.

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Phaethon an Theodor.

Ach! das fühl' ich wohl, ich gedeihe nicht unter
diesem Himmel. Hinüber möcht' ich, wo der schöne
Lorbeer, wie eine heilige Priesterbinde, die besonn-
ten Hügel deckt, hinüber, wo der Mandelbaum die
Silberblüten, wie Flocken Schnee's, zum blauen
Aether sendet, wo sich die Thränenweide traurig
an den Ufern in spiegelklare Wasser senkt, wie
das nasse Auge in die Tiefen der Vergangenheit,
hinüber, wo die volle Frucht der Trauben so
schwellend an der Sonne Liebesfülle glüht, wo die
Natur in ihrem stillen Geist aus tausend Blumen,
tausend Quellen, hold, wie der Säugling aus der
Wiege, lächelt, hinüber, wo die Menschen um die
warme Erde sich wie Pflanzen schlangen, wo die
Natur gleich schön ist, wann sie durch die sanften
Gründe den Bach wie holde Silberstreifen zieht,
wie, wann sie aus den hohen Riesenfelsen, wo nur
des Adlers kühner Fittig rauscht, die dunkeln
Schauer ihres Geistes wehet, wie, wann sie hohe

Phaethon an Theodor.

Ach! das fuͤhl’ ich wohl, ich gedeihe nicht unter
dieſem Himmel. Hinuͤber moͤcht’ ich, wo der ſchoͤne
Lorbeer, wie eine heilige Prieſterbinde, die beſonn-
ten Huͤgel deckt, hinuͤber, wo der Mandelbaum die
Silberbluͤten, wie Flocken Schnee’s, zum blauen
Aether ſendet, wo ſich die Thraͤnenweide traurig
an den Ufern in ſpiegelklare Waſſer ſenkt, wie
das naſſe Auge in die Tiefen der Vergangenheit,
hinuͤber, wo die volle Frucht der Trauben ſo
ſchwellend an der Sonne Liebesfuͤlle gluͤht, wo die
Natur in ihrem ſtillen Geiſt aus tauſend Blumen,
tauſend Quellen, hold, wie der Saͤugling aus der
Wiege, laͤchelt, hinuͤber, wo die Menſchen um die
warme Erde ſich wie Pflanzen ſchlangen, wo die
Natur gleich ſchoͤn iſt, wann ſie durch die ſanften
Gruͤnde den Bach wie holde Silberſtreifen zieht,
wie, wann ſie aus den hohen Rieſenfelſen, wo nur
des Adlers kuͤhner Fittig rauſcht, die dunkeln
Schauer ihres Geiſtes wehet, wie, wann ſie hohe

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[53/0063] Phaethon an Theodor. Ach! das fuͤhl’ ich wohl, ich gedeihe nicht unter dieſem Himmel. Hinuͤber moͤcht’ ich, wo der ſchoͤne Lorbeer, wie eine heilige Prieſterbinde, die beſonn- ten Huͤgel deckt, hinuͤber, wo der Mandelbaum die Silberbluͤten, wie Flocken Schnee’s, zum blauen Aether ſendet, wo ſich die Thraͤnenweide traurig an den Ufern in ſpiegelklare Waſſer ſenkt, wie das naſſe Auge in die Tiefen der Vergangenheit, hinuͤber, wo die volle Frucht der Trauben ſo ſchwellend an der Sonne Liebesfuͤlle gluͤht, wo die Natur in ihrem ſtillen Geiſt aus tauſend Blumen, tauſend Quellen, hold, wie der Saͤugling aus der Wiege, laͤchelt, hinuͤber, wo die Menſchen um die warme Erde ſich wie Pflanzen ſchlangen, wo die Natur gleich ſchoͤn iſt, wann ſie durch die ſanften Gruͤnde den Bach wie holde Silberſtreifen zieht, wie, wann ſie aus den hohen Rieſenfelſen, wo nur des Adlers kuͤhner Fittig rauſcht, die dunkeln Schauer ihres Geiſtes wehet, wie, wann ſie hohe

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Zitationshilfe: Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 1. Stuttgart, 1823, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton01_1823/63>, abgerufen am 05.05.2024.