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Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 1. Stuttgart, 1823.

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nicht tadeln, aber ist das heitere Spiel des Lebens
und der Schönheit nicht mehr, als der schaurige,
ewig aus den gespensterartigen Formen hervortre-
tende Geist des Grabes?

Jn allen Werken der Alten ist Ruhe, die Schwe-
ster der Größe. Das Kolyssäum, wie die Sieges-
gesänge des Pindaros, ist riesengroß, aber ein ruhig
stiller Geist spricht aus dem Bau der Steine wie
der Strophen.

Maaß in Fülle, und Fülle in Maaß,
das ist das Wesen der Griechen, wie über-
haupt das Wesen der Kunst.

Auf der Stirne des Zeus sträuben sich die Lok-
ken, wie die Mähne eines Löwen, und strudeln über
die Schläfe hinunter, aber die Miene des Weltge-
bieters ist mild, und er schüttelt nur die Locken, so
zittert Himmel und Erde.

Jch kann dir's nicht verbergen, auch mich er-
greift noch das Gigantische, das Maas Ueberschrei-
tende. Der verlaßene, auf der Haide mit den em-
pörten Elementen kämpfende Lear wär' ein Vor-
wurf für mich. Aber laß nur die Wogen sich bäu-
men, dann besänftigt sich das Meer schon wieder.

nicht tadeln, aber iſt das heitere Spiel des Lebens
und der Schoͤnheit nicht mehr, als der ſchaurige,
ewig aus den geſpenſterartigen Formen hervortre-
tende Geiſt des Grabes?

Jn allen Werken der Alten iſt Ruhe, die Schwe-
ſter der Groͤße. Das Kolyſſaͤum, wie die Sieges-
geſaͤnge des Pindaros, iſt rieſengroß, aber ein ruhig
ſtiller Geiſt ſpricht aus dem Bau der Steine wie
der Strophen.

Maaß in Fuͤlle, und Fuͤlle in Maaß,
das iſt das Weſen der Griechen, wie uͤber-
haupt das Weſen der Kunſt.

Auf der Stirne des Zeus ſtraͤuben ſich die Lok-
ken, wie die Maͤhne eines Loͤwen, und ſtrudeln uͤber
die Schlaͤfe hinunter, aber die Miene des Weltge-
bieters iſt mild, und er ſchuͤttelt nur die Locken, ſo
zittert Himmel und Erde.

Jch kann dir’s nicht verbergen, auch mich er-
greift noch das Gigantiſche, das Maas Ueberſchrei-
tende. Der verlaßene, auf der Haide mit den em-
poͤrten Elementen kaͤmpfende Lear waͤr’ ein Vor-
wurf fuͤr mich. Aber laß nur die Wogen ſich baͤu-
men, dann beſaͤnftigt ſich das Meer ſchon wieder.

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[30/0040] nicht tadeln, aber iſt das heitere Spiel des Lebens und der Schoͤnheit nicht mehr, als der ſchaurige, ewig aus den geſpenſterartigen Formen hervortre- tende Geiſt des Grabes? Jn allen Werken der Alten iſt Ruhe, die Schwe- ſter der Groͤße. Das Kolyſſaͤum, wie die Sieges- geſaͤnge des Pindaros, iſt rieſengroß, aber ein ruhig ſtiller Geiſt ſpricht aus dem Bau der Steine wie der Strophen. Maaß in Fuͤlle, und Fuͤlle in Maaß, das iſt das Weſen der Griechen, wie uͤber- haupt das Weſen der Kunſt. Auf der Stirne des Zeus ſtraͤuben ſich die Lok- ken, wie die Maͤhne eines Loͤwen, und ſtrudeln uͤber die Schlaͤfe hinunter, aber die Miene des Weltge- bieters iſt mild, und er ſchuͤttelt nur die Locken, ſo zittert Himmel und Erde. Jch kann dir’s nicht verbergen, auch mich er- greift noch das Gigantiſche, das Maas Ueberſchrei- tende. Der verlaßene, auf der Haide mit den em- poͤrten Elementen kaͤmpfende Lear waͤr’ ein Vor- wurf fuͤr mich. Aber laß nur die Wogen ſich baͤu- men, dann beſaͤnftigt ſich das Meer ſchon wieder.

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Zitationshilfe: Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 1. Stuttgart, 1823, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton01_1823/40>, abgerufen am 26.04.2024.