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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850.

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sie nichts mehr anzufangen wußte, die Fähigkeit, durch
ihre Gebährden, ihre Mienen, den Gedanken der Dicht¬
kunst in seinem Verlangen nach wirklicher Menschwerdung
zu erlösen, hat sie in stupider Gedankenlosigkeit -- sie
weiß nicht an wen? -- verloren oder verschenkt. Sie hat
mit allen Zügen ihres Gesichts, wie mit allen Gebärden
ihrer Glieder nur noch unbegränzte Gefälligkeit auszu¬
drücken. Ihre einzige Sorge ist, so erscheinen zu können
als ob sie irgend etwas abzuschlagen vermöchte, und dieser
Sorge entledigt sie sich in dem einzigen mimischen Aus¬
drucke, dessen sie noch fähig ist, in dem unerschütterlichsten
Lächeln unbedingtester Bereitsamkeit zu Allem und Jedem.
Bei diesem unveränderlich feststehenden Ausdrucke ihrer
Gesichtszüge entspricht sie dem Verlangen nach Abwechse¬
lung und Bewegung nur noch durch die Beine; alle Kunst¬
fähigkeit ist ihr vom Scheitel herab durch den Leib in die
Füße gefahren. Kopf, Nacken, Leib und Schenkel sind
nur noch zum unvermittelten Einladen durch sich selbst da,
wogegen die Füße allein übernommen haben darzustellen,
was sie zu leisten vermöge, wobei Hände und Arme, des
nöthigen Gleichgewichts wegen, sie schwesterlich unter¬
stützen. Was im öffentlichen Privatleben, -- wenn unsre
moderne Staatsbürgerschaft, dem Herkommen und einer
gesellschaftlich zeitvertreibenden Gewohnheit gemäß, sich
auf sogenannten Bällen zum Tanze anläßt, -- man sich

ſie nichts mehr anzufangen wußte, die Fähigkeit, durch
ihre Gebährden, ihre Mienen, den Gedanken der Dicht¬
kunſt in ſeinem Verlangen nach wirklicher Menſchwerdung
zu erlöſen, hat ſie in ſtupider Gedankenloſigkeit — ſie
weiß nicht an wen? — verloren oder verſchenkt. Sie hat
mit allen Zügen ihres Geſichts, wie mit allen Gebärden
ihrer Glieder nur noch unbegränzte Gefälligkeit auszu¬
drücken. Ihre einzige Sorge iſt, ſo erſcheinen zu können
als ob ſie irgend etwas abzuſchlagen vermöchte, und dieſer
Sorge entledigt ſie ſich in dem einzigen mimiſchen Aus¬
drucke, deſſen ſie noch fähig iſt, in dem unerſchütterlichſten
Lächeln unbedingteſter Bereitſamkeit zu Allem und Jedem.
Bei dieſem unveränderlich feſtſtehenden Ausdrucke ihrer
Geſichtszüge entſpricht ſie dem Verlangen nach Abwechſe¬
lung und Bewegung nur noch durch die Beine; alle Kunſt¬
fähigkeit iſt ihr vom Scheitel herab durch den Leib in die
Füße gefahren. Kopf, Nacken, Leib und Schenkel ſind
nur noch zum unvermittelten Einladen durch ſich ſelbſt da,
wogegen die Füße allein übernommen haben darzuſtellen,
was ſie zu leiſten vermöge, wobei Hände und Arme, des
nöthigen Gleichgewichts wegen, ſie ſchweſterlich unter¬
ſtützen. Was im öffentlichen Privatleben, — wenn unſre
moderne Staatsbürgerſchaft, dem Herkommen und einer
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[61/0077] ſie nichts mehr anzufangen wußte, die Fähigkeit, durch ihre Gebährden, ihre Mienen, den Gedanken der Dicht¬ kunſt in ſeinem Verlangen nach wirklicher Menſchwerdung zu erlöſen, hat ſie in ſtupider Gedankenloſigkeit — ſie weiß nicht an wen? — verloren oder verſchenkt. Sie hat mit allen Zügen ihres Geſichts, wie mit allen Gebärden ihrer Glieder nur noch unbegränzte Gefälligkeit auszu¬ drücken. Ihre einzige Sorge iſt, ſo erſcheinen zu können als ob ſie irgend etwas abzuſchlagen vermöchte, und dieſer Sorge entledigt ſie ſich in dem einzigen mimiſchen Aus¬ drucke, deſſen ſie noch fähig iſt, in dem unerſchütterlichſten Lächeln unbedingteſter Bereitſamkeit zu Allem und Jedem. Bei dieſem unveränderlich feſtſtehenden Ausdrucke ihrer Geſichtszüge entſpricht ſie dem Verlangen nach Abwechſe¬ lung und Bewegung nur noch durch die Beine; alle Kunſt¬ fähigkeit iſt ihr vom Scheitel herab durch den Leib in die Füße gefahren. Kopf, Nacken, Leib und Schenkel ſind nur noch zum unvermittelten Einladen durch ſich ſelbſt da, wogegen die Füße allein übernommen haben darzuſtellen, was ſie zu leiſten vermöge, wobei Hände und Arme, des nöthigen Gleichgewichts wegen, ſie ſchweſterlich unter¬ ſtützen. Was im öffentlichen Privatleben, — wenn unſre moderne Staatsbürgerſchaft, dem Herkommen und einer geſellſchaftlich zeitvertreibenden Gewohnheit gemäß, ſich auf ſogenannten Bällen zum Tanze anläßt, — man ſich

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Zitationshilfe: Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/77>, abgerufen am 22.11.2024.