Religion zur Natur. Der Mensch steht daher im Beginne der Wissenschaft dem Leben so gegenüber, wie beim An¬ fange des, von der Natur sich unterscheidenden, mensch¬ lichen Lebens, er den Erscheinungen der Natur gegenüber stand. Die Willkürlichkeit der menschlichen Anschauungen in ihrer Totalität nimmt die Wissenschaft auf, während neben ihr das Leben selbst in seiner Totalität einer unwill¬ kürlichen, nothwendigen Entwickelung folgt. Die Wissen¬ schaft trägt somit die Sünde des Lebens, und büßt sie an sich durch ihre Selbstvernichtung: sie endet in ihrem reinen Gegensatze, in der Erkenntniß der Natur, in der Aner¬ kennung des Unbewußten, Unwillkürlichen, daher Noth¬ wendigen, Wirklichen, Sinnlichen. Das Wesen der Wissen¬ schaft ist daher endlich, das des Lebens unendlich, wie der Irrthum endlich, die Wahrheit aber unendlich ist. Wahr und lebendig ist aber nur, was sinnlich ist und den Be¬ dingungen der Sinnlichkeit gehorcht. Die höchste Steige¬ rung des Irrthumes ist der Hochmuth der Wissenschaft in der Verläugnung und Verachtung der Sinnlichkeit; ihr höchster Sieg dagegen der, von ihr selbst herbeigeführte, Untergang dieses Hochmuthes in der Anerkennung der Sinnlichkeit.
Das Ende der Wissenschaft ist das gerechtfertigte Un¬ bewußte, das sich bewußte Leben, die als sinnig erkannte Sinnlichkeit, der Untergang der Willkür in dem Wollen
Religion zur Natur. Der Menſch ſteht daher im Beginne der Wiſſenſchaft dem Leben ſo gegenüber, wie beim An¬ fange des, von der Natur ſich unterſcheidenden, menſch¬ lichen Lebens, er den Erſcheinungen der Natur gegenüber ſtand. Die Willkürlichkeit der menſchlichen Anſchauungen in ihrer Totalität nimmt die Wiſſenſchaft auf, während neben ihr das Leben ſelbſt in ſeiner Totalität einer unwill¬ kürlichen, nothwendigen Entwickelung folgt. Die Wiſſen¬ ſchaft trägt ſomit die Sünde des Lebens, und büßt ſie an ſich durch ihre Selbſtvernichtung: ſie endet in ihrem reinen Gegenſatze, in der Erkenntniß der Natur, in der Aner¬ kennung des Unbewußten, Unwillkürlichen, daher Noth¬ wendigen, Wirklichen, Sinnlichen. Das Weſen der Wiſſen¬ ſchaft iſt daher endlich, das des Lebens unendlich, wie der Irrthum endlich, die Wahrheit aber unendlich iſt. Wahr und lebendig iſt aber nur, was ſinnlich iſt und den Be¬ dingungen der Sinnlichkeit gehorcht. Die höchſte Steige¬ rung des Irrthumes iſt der Hochmuth der Wiſſenſchaft in der Verläugnung und Verachtung der Sinnlichkeit; ihr höchſter Sieg dagegen der, von ihr ſelbſt herbeigeführte, Untergang dieſes Hochmuthes in der Anerkennung der Sinnlichkeit.
Das Ende der Wiſſenſchaft iſt das gerechtfertigte Un¬ bewußte, das ſich bewußte Leben, die als ſinnig erkannte Sinnlichkeit, der Untergang der Willkür in dem Wollen
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Religion zur Natur. Der Menſch ſteht daher im Beginne
der Wiſſenſchaft dem Leben ſo gegenüber, wie beim An¬
fange des, von der Natur ſich unterſcheidenden, menſch¬
lichen Lebens, er den Erſcheinungen der Natur gegenüber
ſtand. Die Willkürlichkeit der menſchlichen Anſchauungen
in ihrer Totalität nimmt die Wiſſenſchaft auf, während
neben ihr das Leben ſelbſt in ſeiner Totalität einer unwill¬
kürlichen, nothwendigen Entwickelung folgt. Die Wiſſen¬
ſchaft trägt ſomit die Sünde des Lebens, und büßt ſie an
ſich durch ihre Selbſtvernichtung: ſie endet in ihrem reinen
Gegenſatze, in der Erkenntniß der Natur, in der Aner¬
kennung des Unbewußten, Unwillkürlichen, daher Noth¬
wendigen, Wirklichen, Sinnlichen. Das Weſen der Wiſſen¬
ſchaft iſt daher endlich, das des Lebens unendlich, wie der
Irrthum endlich, die Wahrheit aber unendlich iſt. Wahr
und lebendig iſt aber nur, was ſinnlich iſt und den Be¬
dingungen der Sinnlichkeit gehorcht. Die höchſte Steige¬
rung des Irrthumes iſt der Hochmuth der Wiſſenſchaft in
der Verläugnung und Verachtung der Sinnlichkeit; ihr
höchſter Sieg dagegen der, von ihr ſelbſt herbeigeführte,
Untergang dieſes Hochmuthes in der Anerkennung der
Sinnlichkeit.
Das Ende der Wiſſenſchaft iſt das gerechtfertigte Un¬
bewußte, das ſich bewußte Leben, die als ſinnig erkannte
Sinnlichkeit, der Untergang der Willkür in dem Wollen
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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/22>, abgerufen am 22.07.2024.
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