schönen Leibe, dessen Sehnen ihn gezeugt und genährt, sich losgetrennt wie von einem hemmenden, fesselnden Bande, das an seiner unbegränzten Freiheit ihn hindere: -- so glaubte das christliche Sehnen vom sinnlichen Menschen sich losreißen zu müssen, um im schrankenlosen Himmels¬ äther zu freiester Willkür sich auszudehnen. Wie unab¬ lösbar jener Gedanke und dieses Sehnen aber von dem Wesen der menschlichen Natur sei, das sollte ihnen in die¬ ser Trennung gerade erst kund werden: so hoch und luftig sie aufschweben mochten, immer nur konnten sie es in der Gestalt des leiblichen Menschen. Den Körper, wie er an die Gesetze der Schwere gebunden ist, vermochten sie aller¬ dings nicht mit sich zu nehmen; wohl aber eine von ihm abstrahirte, dunstig flüssige Masse, die unwillkürlich Form und Gebahren des menschlichen Leibes wieder annahm. So schwebte der dichterische Gedanke als menschlich gestal¬ tete Wolke in der Luft, die ihren Schatten ausbreitete über das wirkliche, leibliche Erdenleben, zu dem sie ewig nur herabblickte und in dem sie sich aufzulösen verlangen mußte, wie aus ihm ja allein sie ihre dunstigen Nebel¬ lebenssäfte sog. Die wirkliche Wolke löst sich auf, indem sie die Bedingungen ihres Daseins der Erde wieder zurückgiebt: als befruchtender Regen senkt sie sich auf die Gefilde herab; dringt tief in das durstige Erdreich hinein; tränkt die schmachtenden Keime der Pflanze, die dann in
ſchönen Leibe, deſſen Sehnen ihn gezeugt und genährt, ſich losgetrennt wie von einem hemmenden, feſſelnden Bande, das an ſeiner unbegränzten Freiheit ihn hindere: — ſo glaubte das chriſtliche Sehnen vom ſinnlichen Menſchen ſich losreißen zu müſſen, um im ſchrankenloſen Himmels¬ äther zu freieſter Willkür ſich auszudehnen. Wie unab¬ lösbar jener Gedanke und dieſes Sehnen aber von dem Weſen der menſchlichen Natur ſei, das ſollte ihnen in die¬ ſer Trennung gerade erſt kund werden: ſo hoch und luftig ſie aufſchweben mochten, immer nur konnten ſie es in der Geſtalt des leiblichen Menſchen. Den Körper, wie er an die Geſetze der Schwere gebunden iſt, vermochten ſie aller¬ dings nicht mit ſich zu nehmen; wohl aber eine von ihm abſtrahirte, dunſtig flüſſige Maſſe, die unwillkürlich Form und Gebahren des menſchlichen Leibes wieder annahm. So ſchwebte der dichteriſche Gedanke als menſchlich geſtal¬ tete Wolke in der Luft, die ihren Schatten ausbreitete über das wirkliche, leibliche Erdenleben, zu dem ſie ewig nur herabblickte und in dem ſie ſich aufzulöſen verlangen mußte, wie aus ihm ja allein ſie ihre dunſtigen Nebel¬ lebensſäfte ſog. Die wirkliche Wolke löſt ſich auf, indem ſie die Bedingungen ihres Daſeins der Erde wieder zurückgiebt: als befruchtender Regen ſenkt ſie ſich auf die Gefilde herab; dringt tief in das durſtige Erdreich hinein; tränkt die ſchmachtenden Keime der Pflanze, die dann in
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ſchönen Leibe, deſſen Sehnen ihn gezeugt und genährt, ſich
losgetrennt wie von einem hemmenden, feſſelnden Bande,
das an ſeiner unbegränzten Freiheit ihn hindere: — ſo
glaubte das chriſtliche Sehnen vom ſinnlichen Menſchen
ſich losreißen zu müſſen, um im ſchrankenloſen Himmels¬
äther zu freieſter Willkür ſich auszudehnen. Wie unab¬
lösbar jener Gedanke und dieſes Sehnen aber von dem
Weſen der menſchlichen Natur ſei, das ſollte ihnen in die¬
ſer Trennung gerade erſt kund werden: ſo hoch und luftig
ſie aufſchweben mochten, immer nur konnten ſie es in der
Geſtalt des leiblichen Menſchen. Den Körper, wie er an
die Geſetze der Schwere gebunden iſt, vermochten ſie aller¬
dings nicht mit ſich zu nehmen; wohl aber eine von ihm
abſtrahirte, dunſtig flüſſige Maſſe, die unwillkürlich Form
und Gebahren des menſchlichen Leibes wieder annahm.
So ſchwebte der dichteriſche Gedanke als menſchlich geſtal¬
tete Wolke in der Luft, die ihren Schatten ausbreitete
über das wirkliche, leibliche Erdenleben, zu dem ſie ewig
nur herabblickte und in dem ſie ſich aufzulöſen verlangen
mußte, wie aus ihm ja allein ſie ihre dunſtigen Nebel¬
lebensſäfte ſog. Die wirkliche Wolke löſt ſich auf, indem
ſie die Bedingungen ihres Daſeins der Erde wieder
zurückgiebt: als befruchtender Regen ſenkt ſie ſich auf die
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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/128>, abgerufen am 22.07.2024.
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