Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_436.001 pwa_436.011 pwa_436.019 pwa_436.031 pwa_436.040 pwa_436.001 pwa_436.011 pwa_436.019 pwa_436.031 pwa_436.040 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0454" n="436"/><lb n="pwa_436.001"/> Tenues, den Aspiraten, den Liquiden wie hinter den Mediae: z. B. <lb n="pwa_436.002"/> „Da grünt' und blüht' es überall; ich mach' ihn selig; er bleib' in Ruhe“ <lb n="pwa_436.003"/> u. dgl. Der Grund hiervon liegt in der Häufigkeit und Unentbehrlichkeit <lb n="pwa_436.004"/> der ganzen Wortart. Wenn hier auch jene Schranken bestünden, <lb n="pwa_436.005"/> so wäre es schwer und beinahe unmöglich noch einen Satz und <lb n="pwa_436.006"/> Vers zu bilden. Bei der nun geltenden Freiheit ist es aber doppelt <lb n="pwa_436.007"/> nothwendig, nicht nur die Apocope, sondern auch die Verschleifung <lb n="pwa_436.008"/> vorzunehmen und beide Worte in eins zu ziehen. Wird diess in dem <lb n="pwa_436.009"/> Beispiel: „Da grünt' und blüht' es“ unterlassen, so läuft man Gefahr, <lb n="pwa_436.010"/> dass die beiden Verba präsentisch aufgefasst werden.</p> <p><lb n="pwa_436.011"/> Noch eine Freiheit verdient hervorgehoben zu werden. In den <lb n="pwa_436.012"/> bisher besprochenen Fällen war das erste Wort jeweilen betont und <lb n="pwa_436.013"/> apocopiert, das zweite dagegen war unbetont, oder es begann mit <lb n="pwa_436.014"/> einer unbetonten Silbe. Bei Verben kann auch das Umgekehrte vorkommen: <lb n="pwa_436.015"/> das erste Wort ist ein tonloses und apocopiertes Verbum, <lb n="pwa_436.016"/> und darauf folgt ein betontes Wort, so dass das Verbum proclitische <lb n="pwa_436.017"/> Natur annimmt; z. B. „Doch ích musst' únten stehn; Ueb' ímmer Treu <lb n="pwa_436.018"/> und Redlichkeit.“</p> <p><lb n="pwa_436.019"/> Wir pflegen jetzt diese Apocope mit dem Apostroph zu bezeichnen, <lb n="pwa_436.020"/> einem von den Griechen entlehnten Zeichen. In Deutschland gebrauchte <lb n="pwa_436.021"/> es zuerst Konrad Gesner bei seinen antik gemessenen Versen: vgl. die <lb n="pwa_436.022"/> Proben aus Gesners Mithridates vom Jahre 1555 im LB. 2, 117. Vorher, <lb n="pwa_436.023"/> im Mittelalter, galten zwei andre Verfahrensarten. Entweder wurde <lb n="pwa_436.024"/> der getilgte Vocal gar nicht geschrieben, aber auch kein Apostroph angewendet, <lb n="pwa_436.025"/> oder, und das ist das Gewöhnlichere, man schrieb ihn orthographisch <lb n="pwa_436.026"/> regelrecht und überliess dem Leser ihn zu tilgen, konnte es ihm <lb n="pwa_436.027"/> auch überlassen, da keiner den Hiatus sich gestattete, wo Tilgung nöthig <lb n="pwa_436.028"/> und möglich war. Man verfuhr also ganz wie die Römer und wie noch <lb n="pwa_436.029"/> heut zu Tage die Franzosen und überhaupt die Romanen, und von den <lb n="pwa_436.030"/> germanischen Völkern die Niederländer.</p> <p><lb n="pwa_436.031"/> Die besprochenen Vocaltilgungen kommen darauf hinaus, dass sie <lb n="pwa_436.032"/> den Ueberfluss an tonlosen stummen <hi rendition="#i">e,</hi> den die deutsche Sprache seit <lb n="pwa_436.033"/> dem zwölften Jahrhundert besitzt, verringern und theilweis beseitigen <lb n="pwa_436.034"/> sollen; sie sollen dazu dienen, dass der Wohllaut der poetischen Rede <lb n="pwa_436.035"/> nicht gestört werde durch das hässliche Zusammenstossen zweier <lb n="pwa_436.036"/> gleich stummen oder wenigstens gleich unbetonten Vocale; dass also, <lb n="pwa_436.037"/> wenn bereits das erste Wort mit einem stummen <hi rendition="#i">e</hi> endigt, nicht das <lb n="pwa_436.038"/> zweite wieder damit beginne oder mit einem Vocal, der zwar anders <lb n="pwa_436.039"/> lautet, aber ebenso wenig betont ist.</p> <p><lb n="pwa_436.040"/> Es bleiben indessen noch genug Hiate übrig, die nicht so durch <lb n="pwa_436.041"/> Apocope können beseitigt werden: zwei unbetonte Vocale stossen </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [436/0454]
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Tenues, den Aspiraten, den Liquiden wie hinter den Mediae: z. B. pwa_436.002
„Da grünt' und blüht' es überall; ich mach' ihn selig; er bleib' in Ruhe“ pwa_436.003
u. dgl. Der Grund hiervon liegt in der Häufigkeit und Unentbehrlichkeit pwa_436.004
der ganzen Wortart. Wenn hier auch jene Schranken bestünden, pwa_436.005
so wäre es schwer und beinahe unmöglich noch einen Satz und pwa_436.006
Vers zu bilden. Bei der nun geltenden Freiheit ist es aber doppelt pwa_436.007
nothwendig, nicht nur die Apocope, sondern auch die Verschleifung pwa_436.008
vorzunehmen und beide Worte in eins zu ziehen. Wird diess in dem pwa_436.009
Beispiel: „Da grünt' und blüht' es“ unterlassen, so läuft man Gefahr, pwa_436.010
dass die beiden Verba präsentisch aufgefasst werden.
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Noch eine Freiheit verdient hervorgehoben zu werden. In den pwa_436.012
bisher besprochenen Fällen war das erste Wort jeweilen betont und pwa_436.013
apocopiert, das zweite dagegen war unbetont, oder es begann mit pwa_436.014
einer unbetonten Silbe. Bei Verben kann auch das Umgekehrte vorkommen: pwa_436.015
das erste Wort ist ein tonloses und apocopiertes Verbum, pwa_436.016
und darauf folgt ein betontes Wort, so dass das Verbum proclitische pwa_436.017
Natur annimmt; z. B. „Doch ích musst' únten stehn; Ueb' ímmer Treu pwa_436.018
und Redlichkeit.“
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Wir pflegen jetzt diese Apocope mit dem Apostroph zu bezeichnen, pwa_436.020
einem von den Griechen entlehnten Zeichen. In Deutschland gebrauchte pwa_436.021
es zuerst Konrad Gesner bei seinen antik gemessenen Versen: vgl. die pwa_436.022
Proben aus Gesners Mithridates vom Jahre 1555 im LB. 2, 117. Vorher, pwa_436.023
im Mittelalter, galten zwei andre Verfahrensarten. Entweder wurde pwa_436.024
der getilgte Vocal gar nicht geschrieben, aber auch kein Apostroph angewendet, pwa_436.025
oder, und das ist das Gewöhnlichere, man schrieb ihn orthographisch pwa_436.026
regelrecht und überliess dem Leser ihn zu tilgen, konnte es ihm pwa_436.027
auch überlassen, da keiner den Hiatus sich gestattete, wo Tilgung nöthig pwa_436.028
und möglich war. Man verfuhr also ganz wie die Römer und wie noch pwa_436.029
heut zu Tage die Franzosen und überhaupt die Romanen, und von den pwa_436.030
germanischen Völkern die Niederländer.
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Die besprochenen Vocaltilgungen kommen darauf hinaus, dass sie pwa_436.032
den Ueberfluss an tonlosen stummen e, den die deutsche Sprache seit pwa_436.033
dem zwölften Jahrhundert besitzt, verringern und theilweis beseitigen pwa_436.034
sollen; sie sollen dazu dienen, dass der Wohllaut der poetischen Rede pwa_436.035
nicht gestört werde durch das hässliche Zusammenstossen zweier pwa_436.036
gleich stummen oder wenigstens gleich unbetonten Vocale; dass also, pwa_436.037
wenn bereits das erste Wort mit einem stummen e endigt, nicht das pwa_436.038
zweite wieder damit beginne oder mit einem Vocal, der zwar anders pwa_436.039
lautet, aber ebenso wenig betont ist.
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