Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_412.001 pwa_412.003 pwa_412.027 pwa_412.001 pwa_412.003 pwa_412.027 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0430" n="412"/><lb n="pwa_412.001"/> nun von Bild zu Gegenbild als von einem Hauptsatze zum anderen <lb n="pwa_412.002"/> kann fortgeschritten werden.</p> <p><lb n="pwa_412.003"/> Nun die <hi rendition="#b">Abgebrochenheit.</hi> Sie besteht darin, dass man den Satz <lb n="pwa_412.004"/> nicht ausführt, dass man ihn abbricht, noch ehe Alles gesagt ist, was <lb n="pwa_412.005"/> eigentlich zu sagen wäre. Es giebt zwei Arten der abgebrochenen <lb n="pwa_412.006"/> Rede: die <hi rendition="#i">Ellipse</hi> und die <hi rendition="#i">Aposiopese;</hi> sie sind wesentlich von einander <lb n="pwa_412.007"/> verschieden. Bei der <hi rendition="#b">Ellipse</hi> (<foreign xml:lang="grc">ἔλλειψις</foreign>) lässt man der Kürze wegen das <lb n="pwa_412.008"/> minder Wichtige und Unbedeutende fort, weil es sich von selbst versteht, <lb n="pwa_412.009"/> und weil man vielleicht sogar im Augenblick deutlicher spricht, <lb n="pwa_412.010"/> wenn man unterdrückt, was nichts zur Sache thut; oder man lässt es <lb n="pwa_412.011"/> fort aus leidenschaftlicher Bewegung des Gemüthes, in der man es <lb n="pwa_412.012"/> übersieht: die Ellipse lässt also den bedeutsamen Vorstellungen zu <lb n="pwa_412.013"/> Liebe die unbedeutenden fort und spricht nur jene aus. Insofern <lb n="pwa_412.014"/> damit theils der Deutlichkeit, theils der Leidenschaftlichkeit gedient <lb n="pwa_412.015"/> wird, hat die Ellipse ihren eigentlichen Platz theils in dem gewöhnlichen <lb n="pwa_412.016"/> prosaischen, theils in dem lyrischen oder rednerischen Stil, <lb n="pwa_412.017"/> nicht aber in den übrigen poetischen Stilarten; Ellipsen der Deutlichkeit <lb n="pwa_412.018"/> hat jede Sprache zu Hunderten: die militärischen Commandowörter <lb n="pwa_412.019"/> sind beinahe alle ellipsisch. Ellipsen der Leidenschaft gehören zwar, <lb n="pwa_412.020"/> wie gesagt, eigentlich der Lyrik und der Rede an, aber sie können <lb n="pwa_412.021"/> auch sonst vorkommen, insofern auch andere Gattungen der Poesie <lb n="pwa_412.022"/> stellenweise in die Lyrik hinübergreifen können, und deshalb namentlich <lb n="pwa_412.023"/> in der Tragödie. Z. B. Schillers Räuber (4. Act. 5. Sc.): „Wer mir <lb n="pwa_412.024"/> Bürge wäre? — — es ist Alles so finster — verworrene Labyrinthe — <lb n="pwa_412.025"/> kein Ausgang — kein leitendes Gestirn — wenn's aus wäre mit diesem <lb n="pwa_412.026"/> letzten Odemzug — aus, wie ein schales Marionettenspiel!“</p> <p><lb n="pwa_412.027"/> Ganz anders bei der <hi rendition="#b">Aposiopese,</hi> <foreign xml:lang="grc">ἀποσιώπησις</foreign>, lateinisch <hi rendition="#i">reticentia:</hi> <lb n="pwa_412.028"/> sie verschweigt recht im Gegensatze zur Ellipse das Wichtige und <lb n="pwa_412.029"/> spricht nur das Untergeordnete aus: sie bricht den Satz gerade da ab, <lb n="pwa_412.030"/> wo erst die Hauptsache kommen soll. So bei Gellert: „Komm ich <lb n="pwa_412.031"/> hinauf zu dir, so soll dein Blut“ —; so bei Virgil (Aen. 1, 139) die <lb n="pwa_412.032"/> bekannte Drohung Neptuns: „Quos ego!“ (Wartet, ich will euch —); <lb n="pwa_412.033"/> so in Herders Cid: „Wer hier wagt zu mucken —.“ Offenbar hat die <lb n="pwa_412.034"/> Aposiopese mehr Poetisches als die Ellipse, insofern sie mehr als diese <lb n="pwa_412.035"/> die Einbildungskraft beschäftigt; was die Ellipse auslässt, sind untergeordnete <lb n="pwa_412.036"/> Wörter, blosse Hilfswörter; sie zu ergänzen, bedarf es der <lb n="pwa_412.037"/> Einbildungskraft nicht; wohl aber wird diese in Anspruch genommen, <lb n="pwa_412.038"/> wo zur Vollständigkeit des Gedankens gerade das Wichtigste fehlt, <lb n="pwa_412.039"/> wo so grosse Lücken auszufüllen sind, wie diess bei der Aposiopese <lb n="pwa_412.040"/> der Fall ist. Hier muss der Hörer oder Leser, nachdem der Sprechende, <lb n="pwa_412.041"/> der Dichter verstummt ist, für ihn eintreten und selbst weiter </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [412/0430]
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nun von Bild zu Gegenbild als von einem Hauptsatze zum anderen pwa_412.002
kann fortgeschritten werden.
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Nun die Abgebrochenheit. Sie besteht darin, dass man den Satz pwa_412.004
nicht ausführt, dass man ihn abbricht, noch ehe Alles gesagt ist, was pwa_412.005
eigentlich zu sagen wäre. Es giebt zwei Arten der abgebrochenen pwa_412.006
Rede: die Ellipse und die Aposiopese; sie sind wesentlich von einander pwa_412.007
verschieden. Bei der Ellipse (ἔλλειψις) lässt man der Kürze wegen das pwa_412.008
minder Wichtige und Unbedeutende fort, weil es sich von selbst versteht, pwa_412.009
und weil man vielleicht sogar im Augenblick deutlicher spricht, pwa_412.010
wenn man unterdrückt, was nichts zur Sache thut; oder man lässt es pwa_412.011
fort aus leidenschaftlicher Bewegung des Gemüthes, in der man es pwa_412.012
übersieht: die Ellipse lässt also den bedeutsamen Vorstellungen zu pwa_412.013
Liebe die unbedeutenden fort und spricht nur jene aus. Insofern pwa_412.014
damit theils der Deutlichkeit, theils der Leidenschaftlichkeit gedient pwa_412.015
wird, hat die Ellipse ihren eigentlichen Platz theils in dem gewöhnlichen pwa_412.016
prosaischen, theils in dem lyrischen oder rednerischen Stil, pwa_412.017
nicht aber in den übrigen poetischen Stilarten; Ellipsen der Deutlichkeit pwa_412.018
hat jede Sprache zu Hunderten: die militärischen Commandowörter pwa_412.019
sind beinahe alle ellipsisch. Ellipsen der Leidenschaft gehören zwar, pwa_412.020
wie gesagt, eigentlich der Lyrik und der Rede an, aber sie können pwa_412.021
auch sonst vorkommen, insofern auch andere Gattungen der Poesie pwa_412.022
stellenweise in die Lyrik hinübergreifen können, und deshalb namentlich pwa_412.023
in der Tragödie. Z. B. Schillers Räuber (4. Act. 5. Sc.): „Wer mir pwa_412.024
Bürge wäre? — — es ist Alles so finster — verworrene Labyrinthe — pwa_412.025
kein Ausgang — kein leitendes Gestirn — wenn's aus wäre mit diesem pwa_412.026
letzten Odemzug — aus, wie ein schales Marionettenspiel!“
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Ganz anders bei der Aposiopese, ἀποσιώπησις, lateinisch reticentia: pwa_412.028
sie verschweigt recht im Gegensatze zur Ellipse das Wichtige und pwa_412.029
spricht nur das Untergeordnete aus: sie bricht den Satz gerade da ab, pwa_412.030
wo erst die Hauptsache kommen soll. So bei Gellert: „Komm ich pwa_412.031
hinauf zu dir, so soll dein Blut“ —; so bei Virgil (Aen. 1, 139) die pwa_412.032
bekannte Drohung Neptuns: „Quos ego!“ (Wartet, ich will euch —); pwa_412.033
so in Herders Cid: „Wer hier wagt zu mucken —.“ Offenbar hat die pwa_412.034
Aposiopese mehr Poetisches als die Ellipse, insofern sie mehr als diese pwa_412.035
die Einbildungskraft beschäftigt; was die Ellipse auslässt, sind untergeordnete pwa_412.036
Wörter, blosse Hilfswörter; sie zu ergänzen, bedarf es der pwa_412.037
Einbildungskraft nicht; wohl aber wird diese in Anspruch genommen, pwa_412.038
wo zur Vollständigkeit des Gedankens gerade das Wichtigste fehlt, pwa_412.039
wo so grosse Lücken auszufüllen sind, wie diess bei der Aposiopese pwa_412.040
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der Dichter verstummt ist, für ihn eintreten und selbst weiter
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