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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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den beinahe gänzlichen Mangel an den nothwendigsten Eigenschaften pwa_021.002
eines Dichters und den hoch oben thronenden nackten Verstand sammt pwa_021.003
seiner Gelehrsamkeit und eifrigen Polemik nicht zu verdecken. Anders pwa_021.004
bei Schiller. In Schillers Poesie hat allerdings niemals ein einträchtiges pwa_021.005
Zusammenwirken jener drei Kräfte statt gefunden, immer pwa_021.006
hat eine über Gebühr vorgewaltet: in seinen frühesten Dichtungen die pwa_021.007
Phantasie, lange und überall der reflectierende Verstand. Aber doch pwa_021.008
ist seine Poesie eine andre als die Vossische, ein ganzer Himmel liegt pwa_021.009
dazwischen: waltet bei Schiller auch die Reflexion vor, so gebricht pwa_021.010
es ihm wahrlich nicht an Einbildung und an Gefühl, während sie bei pwa_021.011
Voss nur spärlich hervortreten und von Gemüth bei ihm nun gar pwa_021.012
keine Spur ist; und dann ist auch das Wetterleuchten der Schillerischen pwa_021.013
Rede eher im Stande, den Leser zu blenden und zu entzücken, pwa_021.014
als der mühsame Flittertand der Vossischen Idyllen und Lieder. Und pwa_021.015
so ist es, um noch einen dritten, der Voss mannigfach ähnlich ist, pwa_021.016
als Beispiel anzuführen, auch ein Missgriff, aber ein characteristischer pwa_021.017
Missgriff, wenn ein vielgepriesener Dichter der neuesten Zeit, der pwa_021.018
Graf von Platen, in seinem Romantischen Oedipus als den Genius pwa_021.019
der classischen Poesie, wie er sich dieselbe denkt, gleichsam als den pwa_021.020
modern classischen Apollo den personificierten Verstand auftreten pwa_021.021
lässt; insofern besonders characteristisch, als er mit dieser Person pwa_021.022
des genannten Dramas nach seiner eitel einbildischen Weise eigentlich pwa_021.023
nur sich selber meint. So viel über das Verhältniss der Beiordnung pwa_021.024
und der Unterordnung zwischen den genannten drei Kräften.

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Nun ist von denjenigen Fällen zu handeln, wo nicht bloss die pwa_021.026
eine Kraft sich über die beiden andren friedsam erhebt, sondern wo pwa_021.027
die Anschauungen der Einbildung mit dem Gefühl und dem Verstande pwa_021.028
in einen unvermittelten Widerstreit gerathen, wo sogar Gefühl pwa_021.029
und Verstand von der Einbildung überwältigt und fortgerissen und pwa_021.030
vorübergehend aufgehoben werden.

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Wir sprechen zuerst von dem Zwiespalt der Einbildung mit dem pwa_021.032
Verstande. Wenn wir in der Wirklichkeit etwas gewahren, dem wir pwa_021.033
die Wirklichkeit nicht absprechen können, und das auch die Wirklichkeit pwa_021.034
recht eigentlich in Anspruch nimmt, das uns aber gleichwohl pwa_021.035
unverständig erscheint, wenn wir eine Rede hören, die unserm Verstande pwa_021.036
unpasslich, wenn wir eine Handlung sehen, die ihm unzweckmässig pwa_021.037
vorkommt, während doch Rede und Handlung für verständig pwa_021.038
und zweckmässig gelten wollen, wenn somit das Urtheil unseres Verstandes pwa_021.039
in Widerspruch mit dem in der Wirklichkeit Wahrgenommenen pwa_021.040
geräth, so nennen wir eine solche Rede oder Handlung eine pwa_021.041
Thorheit, und sie macht auf uns den Eindruck des Lächerlichen; geben

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den beinahe gänzlichen Mangel an den nothwendigsten Eigenschaften pwa_021.002
eines Dichters und den hoch oben thronenden nackten Verstand sammt pwa_021.003
seiner Gelehrsamkeit und eifrigen Polemik nicht zu verdecken. Anders pwa_021.004
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Zusammenwirken jener drei Kräfte statt gefunden, immer pwa_021.006
hat eine über Gebühr vorgewaltet: in seinen frühesten Dichtungen die pwa_021.007
Phantasie, lange und überall der reflectierende Verstand. Aber doch pwa_021.008
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dazwischen: waltet bei Schiller auch die Reflexion vor, so gebricht pwa_021.010
es ihm wahrlich nicht an Einbildung und an Gefühl, während sie bei pwa_021.011
Voss nur spärlich hervortreten und von Gemüth bei ihm nun gar pwa_021.012
keine Spur ist; und dann ist auch das Wetterleuchten der Schillerischen pwa_021.013
Rede eher im Stande, den Leser zu blenden und zu entzücken, pwa_021.014
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so ist es, um noch einen dritten, der Voss mannigfach ähnlich ist, pwa_021.016
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Missgriff, wenn ein vielgepriesener Dichter der neuesten Zeit, der pwa_021.018
Graf von Platen, in seinem Romantischen Oedipus als den Genius pwa_021.019
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modern classischen Apollo den personificierten Verstand auftreten pwa_021.021
lässt; insofern besonders characteristisch, als er mit dieser Person pwa_021.022
des genannten Dramas nach seiner eitel einbildischen Weise eigentlich pwa_021.023
nur sich selber meint. So viel über das Verhältniss der Beiordnung pwa_021.024
und der Unterordnung zwischen den genannten drei Kräften.

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Nun ist von denjenigen Fällen zu handeln, wo nicht bloss die pwa_021.026
eine Kraft sich über die beiden andren friedsam erhebt, sondern wo pwa_021.027
die Anschauungen der Einbildung mit dem Gefühl und dem Verstande pwa_021.028
in einen unvermittelten Widerstreit gerathen, wo sogar Gefühl pwa_021.029
und Verstand von der Einbildung überwältigt und fortgerissen und pwa_021.030
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Wir sprechen zuerst von dem Zwiespalt der Einbildung mit dem pwa_021.032
Verstande. Wenn wir in der Wirklichkeit etwas gewahren, dem wir pwa_021.033
die Wirklichkeit nicht absprechen können, und das auch die Wirklichkeit pwa_021.034
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unverständig erscheint, wenn wir eine Rede hören, die unserm Verstande pwa_021.036
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in Widerspruch mit dem in der Wirklichkeit Wahrgenommenen pwa_021.040
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/39>, abgerufen am 21.11.2024.