pwa_280.001 Das ist nun Alles genauer zu erörtern. Es ist angemessen, dass pwa_280.002 die Rede sich gleich von vorn herein als solche ankündige, dass sie pwa_280.003 schon beim ersten Anfange ihren eigenthümlichen Character behaupte pwa_280.004 und bewähre, also dass sie gleich mit einer Einwirkung auf den Willen, pwa_280.005 mit Ueberredung anhebe. Nun ist es aber nicht möglich, schon pwa_280.006 jetzt den Willen auf das bestimmte Ziel hinzulenken, das jenseits der pwa_280.007 Rede liegt, schon jetzt den Zuhörer zu überreden, dass er etwas pwa_280.008 thue: er ist ja noch gar nicht belehrt, was geschehen ist, wie kann pwa_280.009 man ihm da schon sagen, was geschehen solle? Er ist über die pwa_280.010 ganze Sache noch zu gar keiner theoretischen Ueberzeugung gelangt: pwa_280.011 wie kann man da jetzt schon einen practischen Entschluss von ihm pwa_280.012 fordern? Diese eigentliche, volle Ueberredung muss daher nothwendiger pwa_280.013 Weise verspart werden auf den dritten Theil, wo die factische pwa_280.014 und wo die practische Belehrung bereits abgethan und zur Genüge pwa_280.015 ausgeführt sind. Gleichwohl soll das Exordium mit Ueberredung pwa_280.016 beginnen. Das geht nun unter solchen Umständen nur in der Weise, pwa_280.017 dass der Redner die Willfährigkeit der Zuhörer statt auf den beabsichtigten pwa_280.018 Zweck auf sich selbst hinleite, auf sich den Redner, der pwa_280.019 den Zweck beabsichtigt; dass er die Zuhörer zwar noch nicht jenem pwa_280.020 Zwecke, sondern nur noch sich selbst geneigt und wohlwollend zu pwa_280.021 machen suche. Und damit ist denn auch für die eigentliche, volle pwa_280.022 Ueberredung schon genug gewonnen: ist der Zuhörer dem Redner pwa_280.023 einmal geneigt, begleitet er die Worte dessen, der ihn überreden pwa_280.024 will, von Anfang an mit persönlichem Wohlwollen, so ist er damit auch pwa_280.025 schon halb für die Sache gewonnen, und das Wohlwollen für die Person pwa_280.026 wird sich unvermerkt in ein Wohlwollen für deren Zwecke verwandeln. pwa_280.027 Es beginnt also das Exordium und die ganze Rede damit, ut auditorem pwa_280.028 habeas benevolum. Man nennt deshalb diess Anfangsglied auch captatio pwa_280.029 benevolentiae; auch werden zuweilen die Benennungen Exordium pwa_280.030 und Eingang ziemlich ungeschickt auf diese eine Unterabtheilung eingeschränkt. pwa_280.031 Man könnte dieselbe auch den subjectiven Theil nennen: pwa_280.032 denn es handelt sich hier nur noch um die Stellung des redenden pwa_280.033 Subjectes zu der hörenden Versammlung, nicht aber um die factischen pwa_280.034 und practischen und theoretischen Objecte seines Vortrages. Wie aber pwa_280.035 kann nun der Redner sich das Wohlwollen der Zuhörerschaft erwerben? pwa_280.036 Indem er das Gefühl derselben auf wohlthuende Weise berührt durch pwa_280.037 Bescheidenheit, was ihn selbst betrifft, und durch Freundlichkeit gegen pwa_280.038 die Hörer; Beides fliesst in der Regel zusammen: je nachdrücklicher pwa_280.039 der Redner seine eigene Unzulänglichkeit bekennt, je mehr er sich pwa_280.040 selber von dem Rechte nimmt, sich als Lehrer über die Andern zu pwa_280.041 erheben, desto gewinnender ist das für diese Andern; desto mehr fühlen
pwa_280.001 Das ist nun Alles genauer zu erörtern. Es ist angemessen, dass pwa_280.002 die Rede sich gleich von vorn herein als solche ankündige, dass sie pwa_280.003 schon beim ersten Anfange ihren eigenthümlichen Character behaupte pwa_280.004 und bewähre, also dass sie gleich mit einer Einwirkung auf den Willen, pwa_280.005 mit Ueberredung anhebe. Nun ist es aber nicht möglich, schon pwa_280.006 jetzt den Willen auf das bestimmte Ziel hinzulenken, das jenseits der pwa_280.007 Rede liegt, schon jetzt den Zuhörer zu überreden, dass er etwas pwa_280.008 thue: er ist ja noch gar nicht belehrt, was geschehen ist, wie kann pwa_280.009 man ihm da schon sagen, was geschehen solle? Er ist über die pwa_280.010 ganze Sache noch zu gar keiner theoretischen Ueberzeugung gelangt: pwa_280.011 wie kann man da jetzt schon einen practischen Entschluss von ihm pwa_280.012 fordern? Diese eigentliche, volle Ueberredung muss daher nothwendiger pwa_280.013 Weise verspart werden auf den dritten Theil, wo die factische pwa_280.014 und wo die practische Belehrung bereits abgethan und zur Genüge pwa_280.015 ausgeführt sind. Gleichwohl soll das Exordium mit Ueberredung pwa_280.016 beginnen. Das geht nun unter solchen Umständen nur in der Weise, pwa_280.017 dass der Redner die Willfährigkeit der Zuhörer statt auf den beabsichtigten pwa_280.018 Zweck auf sich selbst hinleite, auf sich den Redner, der pwa_280.019 den Zweck beabsichtigt; dass er die Zuhörer zwar noch nicht jenem pwa_280.020 Zwecke, sondern nur noch sich selbst geneigt und wohlwollend zu pwa_280.021 machen suche. Und damit ist denn auch für die eigentliche, volle pwa_280.022 Ueberredung schon genug gewonnen: ist der Zuhörer dem Redner pwa_280.023 einmal geneigt, begleitet er die Worte dessen, der ihn überreden pwa_280.024 will, von Anfang an mit persönlichem Wohlwollen, so ist er damit auch pwa_280.025 schon halb für die Sache gewonnen, und das Wohlwollen für die Person pwa_280.026 wird sich unvermerkt in ein Wohlwollen für deren Zwecke verwandeln. pwa_280.027 Es beginnt also das Exordium und die ganze Rede damit, ut auditorem pwa_280.028 habeas benevolum. Man nennt deshalb diess Anfangsglied auch captatio pwa_280.029 benevolentiae; auch werden zuweilen die Benennungen Exordium pwa_280.030 und Eingang ziemlich ungeschickt auf diese eine Unterabtheilung eingeschränkt. pwa_280.031 Man könnte dieselbe auch den subjectiven Theil nennen: pwa_280.032 denn es handelt sich hier nur noch um die Stellung des redenden pwa_280.033 Subjectes zu der hörenden Versammlung, nicht aber um die factischen pwa_280.034 und practischen und theoretischen Objecte seines Vortrages. Wie aber pwa_280.035 kann nun der Redner sich das Wohlwollen der Zuhörerschaft erwerben? pwa_280.036 Indem er das Gefühl derselben auf wohlthuende Weise berührt durch pwa_280.037 Bescheidenheit, was ihn selbst betrifft, und durch Freundlichkeit gegen pwa_280.038 die Hörer; Beides fliesst in der Regel zusammen: je nachdrücklicher pwa_280.039 der Redner seine eigene Unzulänglichkeit bekennt, je mehr er sich pwa_280.040 selber von dem Rechte nimmt, sich als Lehrer über die Andern zu pwa_280.041 erheben, desto gewinnender ist das für diese Andern; desto mehr fühlen
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Man könnte dieselbe auch den subjectiven Theil nennen: pwa_280.032
denn es handelt sich hier nur noch um die Stellung des redenden pwa_280.033
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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/298>, abgerufen am 25.11.2024.
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