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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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und weiter nichts. Jene Definition hat er wirklich auch nur vom Drama pwa_010.002
entnommen, da ihm diess aus allerlei Erwägungsgründen als die vollendetste pwa_010.003
und vorzüglichste Art erschien und höher gestellt als das Epos.

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Wollen wir aber dieses Uebersehen der bedeutendsten Arten pwa_010.005
der Kunst, mag es nun bei ihm ein zufälliges oder ein geflissentliches pwa_010.006
sein, wollen wir es nicht auch verschulden, so wird mit pwa_010.007
jener unsrer Definition am besten geholfen sein, bei welcher die Nachahmung pwa_010.008
als Grund und Zweck der Kunst, als Anfang und Ende einer pwa_010.009
Kunstbestrebung, freilich ganz ausgeschlossen bleibt. Und in der That pwa_010.010
ist bei aller wahren Kunst die Nachahmung immer nur ein äusserliches pwa_010.011
Hilfsmittel, nicht Zweck, nur Durchgangspunkt; selbst die Menschengestalt, pwa_010.012
die uns der Bildhauer oder der Maler vor Augen bringt, pwa_010.013
ist nicht der ausser ihm liegende Gegenstand seiner künstlerischen pwa_010.014
Thätigkeit gewesen, es hat seine Thätigkeit, wenn wir von dem gewöhnlichen pwa_010.015
blossen Portraitmaler absehen, nicht in blosser Nachahmung pwa_010.016
jenes äusserlich Gegebenen bestanden, so wenig als der Musiker, als pwa_010.017
der Architect, als der lyrische Dichter irgend nachahmen: sondern pwa_010.018
ebenso wie für den Dichter die Sprache bloss die Form ist, in welcher pwa_010.019
und durch welche er seine Anschauung objectiviert, ebenso ist pwa_010.020
für den Maler und für den Bildhauer die Menschen-, die Thiergestalt pwa_010.021
auch nur die helfende Form, die er eben deshalb wählt, weshalb pwa_010.022
sich der Dichter einer Sprache bedient, nämlich um seine Anschauung pwa_010.023
auch andern Menschen wahrnehmbar und fasslich zu machen. Natürlich pwa_010.024
wird er dann um eben dieses Zweckes willen bestrebt sein seinen pwa_010.025
steinernen, seinen gemalten Menschen den natürlichen so ähnlich zu pwa_010.026
machen als möglich; in so fern und auf dieser Stufe ist dann freilich pwa_010.027
auch die Nachahmung seine Aufgabe; aber darum ist sie nicht das pwa_010.028
Wesen seiner Kunst, sie ist und bleibt immer nur ein nebengeordnetes pwa_010.029
Hilfsmittel; die Aussenwelt liefert ihm nicht die Gegenstände der Anschauung, pwa_010.030
sie gewährt ihm nur die Formen derselben. Das bezeugt pwa_010.031
z. B. auch Raphael, wenn er in einem Briefe, der uns aufbewahrt ist, pwa_010.032
eingesteht, dass ihm immer weniger die Natur, immer weniger die pwa_010.033
Antike genüge, dass er jemehr und mehr nur aus seiner Idee male.

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Kunst also ist überall, wo eine schöne Anschauung schön objectiviert pwa_010.035
wird; sie ist nicht mehr vorhanden, wo entweder das, was man pwa_010.036
darstellt, oder die Art, wie man es darstellt, oder wo beides, Gehalt pwa_010.037
und Form den Anforderungen des Schönheitsgesetzes nicht entsprechen. pwa_010.038
Ein Flachmaler, welcher ein Blech, ein Brett durch den farbigen Ueberstrich pwa_010.039
nur haltbarer macht, ist kein Künstler; ein Haus, das nur der pwa_010.040
Bequemlichkeit des Bewohners dient und dienen soll und kann, ist pwa_010.041
kein Kunstwerk. Hier liegen denn auch die Grenzen zwischen der

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und weiter nichts. Jene Definition hat er wirklich auch nur vom Drama pwa_010.002
entnommen, da ihm diess aus allerlei Erwägungsgründen als die vollendetste pwa_010.003
und vorzüglichste Art erschien und höher gestellt als das Epos.

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Wollen wir aber dieses Uebersehen der bedeutendsten Arten pwa_010.005
der Kunst, mag es nun bei ihm ein zufälliges oder ein geflissentliches pwa_010.006
sein, wollen wir es nicht auch verschulden, so wird mit pwa_010.007
jener unsrer Definition am besten geholfen sein, bei welcher die Nachahmung pwa_010.008
als Grund und Zweck der Kunst, als Anfang und Ende einer pwa_010.009
Kunstbestrebung, freilich ganz ausgeschlossen bleibt. Und in der That pwa_010.010
ist bei aller wahren Kunst die Nachahmung immer nur ein äusserliches pwa_010.011
Hilfsmittel, nicht Zweck, nur Durchgangspunkt; selbst die Menschengestalt, pwa_010.012
die uns der Bildhauer oder der Maler vor Augen bringt, pwa_010.013
ist nicht der ausser ihm liegende Gegenstand seiner künstlerischen pwa_010.014
Thätigkeit gewesen, es hat seine Thätigkeit, wenn wir von dem gewöhnlichen pwa_010.015
blossen Portraitmaler absehen, nicht in blosser Nachahmung pwa_010.016
jenes äusserlich Gegebenen bestanden, so wenig als der Musiker, als pwa_010.017
der Architect, als der lyrische Dichter irgend nachahmen: sondern pwa_010.018
ebenso wie für den Dichter die Sprache bloss die Form ist, in welcher pwa_010.019
und durch welche er seine Anschauung objectiviert, ebenso ist pwa_010.020
für den Maler und für den Bildhauer die Menschen-, die Thiergestalt pwa_010.021
auch nur die helfende Form, die er eben deshalb wählt, weshalb pwa_010.022
sich der Dichter einer Sprache bedient, nämlich um seine Anschauung pwa_010.023
auch andern Menschen wahrnehmbar und fasslich zu machen. Natürlich pwa_010.024
wird er dann um eben dieses Zweckes willen bestrebt sein seinen pwa_010.025
steinernen, seinen gemalten Menschen den natürlichen so ähnlich zu pwa_010.026
machen als möglich; in so fern und auf dieser Stufe ist dann freilich pwa_010.027
auch die Nachahmung seine Aufgabe; aber darum ist sie nicht das pwa_010.028
Wesen seiner Kunst, sie ist und bleibt immer nur ein nebengeordnetes pwa_010.029
Hilfsmittel; die Aussenwelt liefert ihm nicht die Gegenstände der Anschauung, pwa_010.030
sie gewährt ihm nur die Formen derselben. Das bezeugt pwa_010.031
z. B. auch Raphael, wenn er in einem Briefe, der uns aufbewahrt ist, pwa_010.032
eingesteht, dass ihm immer weniger die Natur, immer weniger die pwa_010.033
Antike genüge, dass er jemehr und mehr nur aus seiner Idee male.

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Kunst also ist überall, wo eine schöne Anschauung schön objectiviert pwa_010.035
wird; sie ist nicht mehr vorhanden, wo entweder das, was man pwa_010.036
darstellt, oder die Art, wie man es darstellt, oder wo beides, Gehalt pwa_010.037
und Form den Anforderungen des Schönheitsgesetzes nicht entsprechen. pwa_010.038
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Bequemlichkeit des Bewohners dient und dienen soll und kann, ist pwa_010.041
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/28>, abgerufen am 21.11.2024.