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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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der angeschauten Idee in Einklang bringen kann, daraus ergiebt sich pwa_245.002
noch ein anderer Nachtheil, der in künstlerischer Beziehung den meisten pwa_245.003
geschichtlichen Werken anhängt, ein Nachtheil, der ihnen aber pwa_245.004
auch noch aus anderweitigen Gründen unausweichlich zufällt: der pwa_245.005
Mangel nämlich an Einheit. Der Epiker hat es immer mit einem in pwa_245.006
sich abgeschlossenen, concentrierten Ganzen zu thun, Einer Sage oder pwa_245.007
Einem Cyclus von Sagen, die sich alle um Einen Hauptpunct und Eine pwa_245.008
Hauptbegebenheit herumlegen; es wird ihm aber deshalb Alles so abgeschlossen pwa_245.009
und concentriert, weil die belebende Seele der Sage, die pwa_245.010
Idee, das Fremdartige von sich stösst. Wie nun der Historiker? Wo pwa_245.011
das Gebiet seiner Forschung eng und eingeschränkt ist, da wird es pwa_245.012
ihm wohl noch möglich, eine Einheit zu behaupten, wie der epische pwa_245.013
Dichter sie hat, ohne dass er darum sich die Freiheiten des Epikers pwa_245.014
gestattete; der historische Verlauf, den er berichtet, wird, wenn auch pwa_245.015
nicht einfach, doch einheitlich sein können.

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Solche Historiker, die damit dem Epiker am nächsten stehn, sind pwa_245.017
die Biographen, die Geschichtsschreiber einzelner Personen; die Einheit pwa_245.018
der Person haben sie schon vorweg; damit pflegen dann aber pwa_245.019
auch noch andere, mehr oder minder wesentliche Einheiten verbunden pwa_245.020
zu sein. Je weiter sich nun jedoch das Gebiet des Historikers ausdehnt, pwa_245.021
desto mehr und mehr schwindet selbst die Möglichkeit der pwa_245.022
Einheit. Es kommen nun die verschiedenen Arten der sogenannten pwa_245.023
Specialgeschichte, die Geschichte einzelner ganzer Völker, ganzer aus pwa_245.024
vielen Jahrhunderten bestehender Zeiträume, die Geschichte der Religionen, pwa_245.025
der Künste, der Wissenschaften. Es schreibt also nun der pwa_245.026
Historiker etwa die ganze römische Geschichte. Freilich liegt sie fertig pwa_245.027
und abgeschlossen vor ihm da, er kann erkennen, er kann wenigstens pwa_245.028
ahnen, was Gott mit den Römern gewollt habe, er kann zur Anschauung pwa_245.029
der Idee gelangen, die sich in der römischen Geschichte offenbart: pwa_245.030
gleichwohl wird es ihm schwerlich glücken, dieser Einheit der Idee pwa_245.031
gemäss auch eine Einheit des thatsächlichen Inhaltes herzustellen: denn pwa_245.032
er hat mehr als Eine Hauptperson, mehr als Eine Hauptbegebenheit, pwa_245.033
und er darf die Thatsachen, in denen er jene Idee nicht wieder pwa_245.034
erkennt, darum doch nicht beseitigen. Noch schlimmer ist derjenige pwa_245.035
Historiker daran, dessen Gebiet noch nicht einmal abgegrenzt und pwa_245.036
abgeschlossen ist, der eine Geschichte schreibt, die unvollendet noch pwa_245.037
bis in die Gegenwart hereinreicht, wie z. B. die Geschichte eines jetzt pwa_245.038
lebenden Volkes in politischer oder in litterarischer Hinsicht. Selbst pwa_245.039
wenn da der Historiker die Idee richtig auffasste, so könnte er sie pwa_245.040
doch immer nicht zur rechten Anschauung bringen, da sie sich jedesfalls pwa_245.041
noch nicht ganz in der äusseren Wirklichkeit vollendet hat. Eben

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der angeschauten Idee in Einklang bringen kann, daraus ergiebt sich pwa_245.002
noch ein anderer Nachtheil, der in künstlerischer Beziehung den meisten pwa_245.003
geschichtlichen Werken anhängt, ein Nachtheil, der ihnen aber pwa_245.004
auch noch aus anderweitigen Gründen unausweichlich zufällt: der pwa_245.005
Mangel nämlich an Einheit. Der Epiker hat es immer mit einem in pwa_245.006
sich abgeschlossenen, concentrierten Ganzen zu thun, Einer Sage oder pwa_245.007
Einem Cyclus von Sagen, die sich alle um Einen Hauptpunct und Eine pwa_245.008
Hauptbegebenheit herumlegen; es wird ihm aber deshalb Alles so abgeschlossen pwa_245.009
und concentriert, weil die belebende Seele der Sage, die pwa_245.010
Idee, das Fremdartige von sich stösst. Wie nun der Historiker? Wo pwa_245.011
das Gebiet seiner Forschung eng und eingeschränkt ist, da wird es pwa_245.012
ihm wohl noch möglich, eine Einheit zu behaupten, wie der epische pwa_245.013
Dichter sie hat, ohne dass er darum sich die Freiheiten des Epikers pwa_245.014
gestattete; der historische Verlauf, den er berichtet, wird, wenn auch pwa_245.015
nicht einfach, doch einheitlich sein können.

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Solche Historiker, die damit dem Epiker am nächsten stehn, sind pwa_245.017
die Biographen, die Geschichtsschreiber einzelner Personen; die Einheit pwa_245.018
der Person haben sie schon vorweg; damit pflegen dann aber pwa_245.019
auch noch andere, mehr oder minder wesentliche Einheiten verbunden pwa_245.020
zu sein. Je weiter sich nun jedoch das Gebiet des Historikers ausdehnt, pwa_245.021
desto mehr und mehr schwindet selbst die Möglichkeit der pwa_245.022
Einheit. Es kommen nun die verschiedenen Arten der sogenannten pwa_245.023
Specialgeschichte, die Geschichte einzelner ganzer Völker, ganzer aus pwa_245.024
vielen Jahrhunderten bestehender Zeiträume, die Geschichte der Religionen, pwa_245.025
der Künste, der Wissenschaften. Es schreibt also nun der pwa_245.026
Historiker etwa die ganze römische Geschichte. Freilich liegt sie fertig pwa_245.027
und abgeschlossen vor ihm da, er kann erkennen, er kann wenigstens pwa_245.028
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der Idee gelangen, die sich in der römischen Geschichte offenbart: pwa_245.030
gleichwohl wird es ihm schwerlich glücken, dieser Einheit der Idee pwa_245.031
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er hat mehr als Eine Hauptperson, mehr als Eine Hauptbegebenheit, pwa_245.033
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Historiker daran, dessen Gebiet noch nicht einmal abgegrenzt und pwa_245.036
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lebenden Volkes in politischer oder in litterarischer Hinsicht. Selbst pwa_245.039
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/263>, abgerufen am 22.11.2024.