Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_190.001 pwa_190.031 pwa_190.001 pwa_190.031 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0208" n="190"/><lb n="pwa_190.001"/> hineinstralen. Der Punct, wo die Auflösung anhebt, und die Verwickelung <lb n="pwa_190.002"/> sich zu entwickeln beginnt, dieser Wendepunct der Handlung <lb n="pwa_190.003"/> heisst mit einem treffenden griechischen Namen die Katastrophe, <lb n="pwa_190.004"/> <foreign xml:lang="grc">καταστροφή</foreign>, d. h. Umwendung. Man pflegt denselben wohl auf die <lb n="pwa_190.005"/> Tragödie einzuschränken: eine Einschränkung, die weder begründet <lb n="pwa_190.006"/> ist im griechischen Sprachgebrauch, noch bequem und angemessen, <lb n="pwa_190.007"/> da ja der Sache und dem Wesen nach die Comödie auch ihre Katastrophe <lb n="pwa_190.008"/> hat. Ebenso ist es mit einem andern Kunstausdrucke der <lb n="pwa_190.009"/> Griechen, der den letzten entscheidenden Schlag, den eigentlichen <lb n="pwa_190.010"/> Kern der Auflösung bezeichnet, mit dem Ausdruck Peripetie, <foreign xml:lang="grc">περιπέτεια</foreign>, <lb n="pwa_190.011"/> d. h. Umschlag, plötzliche Umänderung. Aristoteles, von dem <lb n="pwa_190.012"/> wir auch diesen erlernt haben, beschränkt ihn durchaus nicht auf die <lb n="pwa_190.013"/> Tragödie, und es ist nur als ein Zufall zu betrachten, dass die Beispiele, <lb n="pwa_190.014"/> die er anführt, nur aus Tragödien entlehnt sind: er erklärt <lb n="pwa_190.015"/> ihn ganz allgemein als den Umschlag in das Gegentheil (<foreign xml:lang="grc">ἔστι δὲ περιπέτεια</foreign> <lb n="pwa_190.016"/> <foreign xml:lang="grc">ἡ εἰς τὸ ἐναντίον τῶν πραττομένων μεταβολή</foreign>, Poet. 11): er versteht <lb n="pwa_190.017"/> also darunter den plötzlichen Uebergang sowohl aus glücklichen <lb n="pwa_190.018"/> Lagen in unglückliche, als umgekehrt. Mithin giebt es eine Peripetie <lb n="pwa_190.019"/> nicht minder in der Comödie als in der Tragödie. Als eigne Art <lb n="pwa_190.020"/> und besondres Mittel der Auflösung nennt Aristoteles noch die Erkennung, <lb n="pwa_190.021"/> <foreign xml:lang="grc">ἀναγνώρισις</foreign>, d. h. <foreign xml:lang="grc">ἡ ἐξ ἀγνοίας εἰς γνῶσιν μεταβολή</foreign>. Diese <lb n="pwa_190.022"/> Erkennung kann den Beginn der Auflösung bilden; sie kann auch mit <lb n="pwa_190.023"/> jenem Kernpunct derselben, mit der Peripetie zusammenfallen. In <lb n="pwa_190.024"/> letzterer Weise findet es Aristoteles am schönsten, und das mit Recht: <lb n="pwa_190.025"/> beide, die Erkennung wie der Umschlag, sind dann von grösserem <lb n="pwa_190.026"/> Gewicht; Eins hebt und stärkt das Andre. Als Beispiel nennt er den <lb n="pwa_190.027"/> Oedipus: er meint Sophocles' Oedipus Tyrannus, unter dem die ganze <lb n="pwa_190.028"/> königliche, ja seine ganze menschliche Herrlichkeit in demselben Augenblicke <lb n="pwa_190.029"/> zusammenbricht, wo er erkennt, dass Laius, den er erschlagen, <lb n="pwa_190.030"/> sein Vater, und dass sein Weib zugleich seine Mutter sei.</p> <p><lb n="pwa_190.031"/> Besonders in der Auflösung wird das Drama seinen Unterschied <lb n="pwa_190.032"/> vom Epos bewähren müssen. Das Epos, das eben nur eine Reihe <lb n="pwa_190.033"/> äusserer Begebenheiten vorführt, kann sie auch eher mehr äusserlich <lb n="pwa_190.034"/> abschliessen, z. B. durch ein Wunder, durch ein Ereigniss, das ausserhalb <lb n="pwa_190.035"/> alles natürlichen Zusammenhanges mit den vorangegangenen Ereignissen <lb n="pwa_190.036"/> liegt, und das dennoch die Reihe derselben beendigt. Das <lb n="pwa_190.037"/> Drama zeigt dagegen Handlung: in ihm sind alle einzelnen Begebenheiten <lb n="pwa_190.038"/> auf das engste innerlich verbunden; eine nach der andern ist <lb n="pwa_190.039"/> nur Ausfluss und Ergebniss der agierenden Charactere; Alles ist Motiv <lb n="pwa_190.040"/> und motiviert: so darf denn auch das Ende nur die letzte, volle und <lb n="pwa_190.041"/> vollendende Wirkung all der Ursächlichkeiten sein, die in der Exposition </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [190/0208]
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hineinstralen. Der Punct, wo die Auflösung anhebt, und die Verwickelung pwa_190.002
sich zu entwickeln beginnt, dieser Wendepunct der Handlung pwa_190.003
heisst mit einem treffenden griechischen Namen die Katastrophe, pwa_190.004
καταστροφή, d. h. Umwendung. Man pflegt denselben wohl auf die pwa_190.005
Tragödie einzuschränken: eine Einschränkung, die weder begründet pwa_190.006
ist im griechischen Sprachgebrauch, noch bequem und angemessen, pwa_190.007
da ja der Sache und dem Wesen nach die Comödie auch ihre Katastrophe pwa_190.008
hat. Ebenso ist es mit einem andern Kunstausdrucke der pwa_190.009
Griechen, der den letzten entscheidenden Schlag, den eigentlichen pwa_190.010
Kern der Auflösung bezeichnet, mit dem Ausdruck Peripetie, περιπέτεια, pwa_190.011
d. h. Umschlag, plötzliche Umänderung. Aristoteles, von dem pwa_190.012
wir auch diesen erlernt haben, beschränkt ihn durchaus nicht auf die pwa_190.013
Tragödie, und es ist nur als ein Zufall zu betrachten, dass die Beispiele, pwa_190.014
die er anführt, nur aus Tragödien entlehnt sind: er erklärt pwa_190.015
ihn ganz allgemein als den Umschlag in das Gegentheil (ἔστι δὲ περιπέτεια pwa_190.016
ἡ εἰς τὸ ἐναντίον τῶν πραττομένων μεταβολή, Poet. 11): er versteht pwa_190.017
also darunter den plötzlichen Uebergang sowohl aus glücklichen pwa_190.018
Lagen in unglückliche, als umgekehrt. Mithin giebt es eine Peripetie pwa_190.019
nicht minder in der Comödie als in der Tragödie. Als eigne Art pwa_190.020
und besondres Mittel der Auflösung nennt Aristoteles noch die Erkennung, pwa_190.021
ἀναγνώρισις, d. h. ἡ ἐξ ἀγνοίας εἰς γνῶσιν μεταβολή. Diese pwa_190.022
Erkennung kann den Beginn der Auflösung bilden; sie kann auch mit pwa_190.023
jenem Kernpunct derselben, mit der Peripetie zusammenfallen. In pwa_190.024
letzterer Weise findet es Aristoteles am schönsten, und das mit Recht: pwa_190.025
beide, die Erkennung wie der Umschlag, sind dann von grösserem pwa_190.026
Gewicht; Eins hebt und stärkt das Andre. Als Beispiel nennt er den pwa_190.027
Oedipus: er meint Sophocles' Oedipus Tyrannus, unter dem die ganze pwa_190.028
königliche, ja seine ganze menschliche Herrlichkeit in demselben Augenblicke pwa_190.029
zusammenbricht, wo er erkennt, dass Laius, den er erschlagen, pwa_190.030
sein Vater, und dass sein Weib zugleich seine Mutter sei.
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Besonders in der Auflösung wird das Drama seinen Unterschied pwa_190.032
vom Epos bewähren müssen. Das Epos, das eben nur eine Reihe pwa_190.033
äusserer Begebenheiten vorführt, kann sie auch eher mehr äusserlich pwa_190.034
abschliessen, z. B. durch ein Wunder, durch ein Ereigniss, das ausserhalb pwa_190.035
alles natürlichen Zusammenhanges mit den vorangegangenen Ereignissen pwa_190.036
liegt, und das dennoch die Reihe derselben beendigt. Das pwa_190.037
Drama zeigt dagegen Handlung: in ihm sind alle einzelnen Begebenheiten pwa_190.038
auf das engste innerlich verbunden; eine nach der andern ist pwa_190.039
nur Ausfluss und Ergebniss der agierenden Charactere; Alles ist Motiv pwa_190.040
und motiviert: so darf denn auch das Ende nur die letzte, volle und pwa_190.041
vollendende Wirkung all der Ursächlichkeiten sein, die in der Exposition
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