Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_181.001 pwa_181.005 pwa_181.016 pwa_181.025 pwa_181.001 pwa_181.005 pwa_181.016 pwa_181.025 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0199" n="181"/><lb n="pwa_181.001"/> erscheinen, die ebensowohl Grausen als Lust erregen konnten: auch die <lb n="pwa_181.002"/> Comödie gefällt sich fort und fort in den abenteuerlichsten Maskierungen <lb n="pwa_181.003"/> ihres Chores. In der Tragödie kommt dergleichen nur noch zuweilen <lb n="pwa_181.004"/> bei Aeschylus vor, ihrem eigentlichen ersten Urheber.</p> <p><lb n="pwa_181.005"/> Endlich weist noch ein Umstand und ein noch mehr äusserlicher auf <lb n="pwa_181.006"/> die Bevorzugung und die Selbständigkeit hin, die der Chor der Comödie <lb n="pwa_181.007"/> und auch noch der der Aeschyleischen Tragödie in Anspruch nahm: <lb n="pwa_181.008"/> die bei Aristophanes herrschende und bei Aeschylus wenigstens noch <lb n="pwa_181.009"/> waltende Sitte, das Drama nach dem Chor zu benennen. Sophocles <lb n="pwa_181.010"/> entnimmt die Benennung schon beinahe durchweg von der Hauptperson <lb n="pwa_181.011"/> des dialogischen Theiles. In der Uebung des Volkes aber stand bis <lb n="pwa_181.012"/> in spätere Zeiten der Chor allem Andern voran, der Chor, der aus <lb n="pwa_181.013"/> seinen alten dithyrambischen Lustbarkeiten hervorgegangen war: ob <lb n="pwa_181.014"/> er gefiel oder nicht, darnach bestimmte sich das Urtheil der Menge <lb n="pwa_181.015"/> über Werth oder Unwerth des ganzen Dramas.</p> <p><lb n="pwa_181.016"/> Der Chor ist Erbe und Eigenthum der griechischen Bühne: er ist <lb n="pwa_181.017"/> auch nur auf ihr die organische Folge historischer Prämissen. Bei <lb n="pwa_181.018"/> uns war nirgend ein Anlass, auf den sich ein solcher hätte bilden <lb n="pwa_181.019"/> können, und so haben denn auch die Versuche, die von den deutschen <lb n="pwa_181.020"/> Dramatikern des 16. und 17. Jahrhunderts und seitdem wieder von <lb n="pwa_181.021"/> einigen der letzten Periode sind gemacht worden, ihn auch auf die <lb n="pwa_181.022"/> deutsche Bühne überzuleiten, nur verunglücken können. Wir wollen <lb n="pwa_181.023"/> nur auf zwei besonders namhafte Beispiele Rücksicht nehmen, auf <lb n="pwa_181.024"/> Schiller und Platen.</p> <p><lb n="pwa_181.025"/> Von Schiller haben wir in der Braut von Messina eine solche <lb n="pwa_181.026"/> Tragödie mit Chören. Hier ist nun nicht zu verkennen, wie der <lb n="pwa_181.027"/> Dichter sich in unaufhörlicher Verlegenheit befindet, den Chor in Rede <lb n="pwa_181.028"/> und Handlung recht zu verwenden. Er lässt ihn mehr und öfter <lb n="pwa_181.029"/> sprechen, als das die Alten jemals gethan: da kann es denn nicht immer <lb n="pwa_181.030"/> das grade im Drama selbst Geschehende sein, worauf sich seine Betrachtungen <lb n="pwa_181.031"/> hinlenken; der Chor, den die Alten nur in der Comödie jeglicher <lb n="pwa_181.032"/> Beziehung zur Handlung überheben, löst sich hier auch in einer <lb n="pwa_181.033"/> Tragödie häufig genug aus allem dramatischen Gange und Zusammenhange <lb n="pwa_181.034"/> heraus und stellt Reflexionen an, die ganz vereinzelt bleiben, <lb n="pwa_181.035"/> die auf das, was daneben geschieht, keinerlei Beziehung haben. So <lb n="pwa_181.036"/> an einer Stelle die Schilderung und vergleichende Erwägung des friedlichen <lb n="pwa_181.037"/> und des kriegerischen Lebens, der Liebe, der Jagd, der Schiffahrt: <lb n="pwa_181.038"/> alles das an sich wahrhaft schön und mit Recht bewundert, aber, <lb n="pwa_181.039"/> und das ist hier der Fehler, undramatisch. Auf der andern Seite lässt <lb n="pwa_181.040"/> dann Schiller den Chor wieder auf das thätigste und thätiger eingreifen, <lb n="pwa_181.041"/> als das irgend bei den Alten vorkommt, und in einer Weise, von </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [181/0199]
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erscheinen, die ebensowohl Grausen als Lust erregen konnten: auch die pwa_181.002
Comödie gefällt sich fort und fort in den abenteuerlichsten Maskierungen pwa_181.003
ihres Chores. In der Tragödie kommt dergleichen nur noch zuweilen pwa_181.004
bei Aeschylus vor, ihrem eigentlichen ersten Urheber.
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Endlich weist noch ein Umstand und ein noch mehr äusserlicher auf pwa_181.006
die Bevorzugung und die Selbständigkeit hin, die der Chor der Comödie pwa_181.007
und auch noch der der Aeschyleischen Tragödie in Anspruch nahm: pwa_181.008
die bei Aristophanes herrschende und bei Aeschylus wenigstens noch pwa_181.009
waltende Sitte, das Drama nach dem Chor zu benennen. Sophocles pwa_181.010
entnimmt die Benennung schon beinahe durchweg von der Hauptperson pwa_181.011
des dialogischen Theiles. In der Uebung des Volkes aber stand bis pwa_181.012
in spätere Zeiten der Chor allem Andern voran, der Chor, der aus pwa_181.013
seinen alten dithyrambischen Lustbarkeiten hervorgegangen war: ob pwa_181.014
er gefiel oder nicht, darnach bestimmte sich das Urtheil der Menge pwa_181.015
über Werth oder Unwerth des ganzen Dramas.
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Der Chor ist Erbe und Eigenthum der griechischen Bühne: er ist pwa_181.017
auch nur auf ihr die organische Folge historischer Prämissen. Bei pwa_181.018
uns war nirgend ein Anlass, auf den sich ein solcher hätte bilden pwa_181.019
können, und so haben denn auch die Versuche, die von den deutschen pwa_181.020
Dramatikern des 16. und 17. Jahrhunderts und seitdem wieder von pwa_181.021
einigen der letzten Periode sind gemacht worden, ihn auch auf die pwa_181.022
deutsche Bühne überzuleiten, nur verunglücken können. Wir wollen pwa_181.023
nur auf zwei besonders namhafte Beispiele Rücksicht nehmen, auf pwa_181.024
Schiller und Platen.
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Von Schiller haben wir in der Braut von Messina eine solche pwa_181.026
Tragödie mit Chören. Hier ist nun nicht zu verkennen, wie der pwa_181.027
Dichter sich in unaufhörlicher Verlegenheit befindet, den Chor in Rede pwa_181.028
und Handlung recht zu verwenden. Er lässt ihn mehr und öfter pwa_181.029
sprechen, als das die Alten jemals gethan: da kann es denn nicht immer pwa_181.030
das grade im Drama selbst Geschehende sein, worauf sich seine Betrachtungen pwa_181.031
hinlenken; der Chor, den die Alten nur in der Comödie jeglicher pwa_181.032
Beziehung zur Handlung überheben, löst sich hier auch in einer pwa_181.033
Tragödie häufig genug aus allem dramatischen Gange und Zusammenhange pwa_181.034
heraus und stellt Reflexionen an, die ganz vereinzelt bleiben, pwa_181.035
die auf das, was daneben geschieht, keinerlei Beziehung haben. So pwa_181.036
an einer Stelle die Schilderung und vergleichende Erwägung des friedlichen pwa_181.037
und des kriegerischen Lebens, der Liebe, der Jagd, der Schiffahrt: pwa_181.038
alles das an sich wahrhaft schön und mit Recht bewundert, aber, pwa_181.039
und das ist hier der Fehler, undramatisch. Auf der andern Seite lässt pwa_181.040
dann Schiller den Chor wieder auf das thätigste und thätiger eingreifen, pwa_181.041
als das irgend bei den Alten vorkommt, und in einer Weise, von
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