pwa_149.001 haben alle Christen das Gleiche zu empfinden, und der Dichter wird pwa_149.002 im Namen der ganzen Gemeinde, der ganzen Christenheit sprechen, pwa_149.003 grade wie die ältere epische Lyrik der Griechen auch nicht für den pwa_149.004 Dichter allein sprach. Erst wenn der Dichter zu jener allgemeinen pwa_149.005 epischen Grundlage noch ein zweites, rein persönliches Motiv hinzufügt pwa_149.006 oder lediglich von einem solchen ausgeht, von einem innern oder pwa_149.007 äussern Ereigniss, das nur ihm gehört und kein Moment ist aus dem pwa_149.008 Leben aller Christenheit: erst dann hört sein Lied auf ein Kirchenlied, pwa_149.009 ein Lied der Gemeinde zu sein, und es wird ein ebenso subjectives pwa_149.010 geistliches Lied, wie die epische Lyrik der spätern Zeit Griechenlands pwa_149.011 auch in ihrer Weise rein subjectiv war. Natürlich ist die pwa_149.012 protestantische Kirche ärmer an episch-lyrischen Liedern, als die pwa_149.013 katholische Kirche es ist und war: denn die katholische Kirche hat pwa_149.014 zur Geschichte noch die Legende, hat noch eine christliche Mythologie, pwa_149.015 und auch die Geschichte erscheint für sie so mannigfaltig mythisch pwa_149.016 gefärbt, dass ihr religiöses Lied, was den Reichthum an epischen pwa_149.017 Motiven betrifft, nicht sehr weit hinter der epischen Lyrik der alten pwa_149.018 Welt zurückbleiben wird. Wir Protestanten können bei unsrer heilsamen pwa_149.019 Beschränkung auf die Geschichte nicht so viel halb epische, pwa_149.020 halb lyrische Kirchenlieder besitzen; denn solche Motive, die dem pwa_149.021 innern Leben der Christen angehören, werden natürlich nur zu rein pwa_149.022 lyrischen Dichtungen führen; noch öfter aber wird, da unsre geistliche pwa_149.023 Poesie auch dogmatische und ethische Zwecke zu verfolgen hat, pwa_149.024 hier die Lyrik eine didactische Farbe gewinnen, d. h. mit einem pwa_149.025 Fusse aus der Poesie heraustreten. Leider aber bilden solche didactische pwa_149.026 Kirchenlieder die Mehrzahl derer, die wir besitzen: unsre meisten pwa_149.027 Kirchenlieder stammen aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, pwa_149.028 aus dem siebzehnten, wo ein streithafter Dogmatismus die pwa_149.029 Kirche beherrschte, aus dem achtzehnten, wo ein seichter Moralismus pwa_149.030 an dessen Stelle trat; nur Wenige behaupteten sich als wahre Dichter pwa_149.031 in der epischen Lyrik und in der lyrischen Lyrik, wie Paul Gerhardt, pwa_149.032 Benjamin Schmolck u. a. (LB. 2, 467. 553). Die herrnhutischen Dichter pwa_149.033 wären vielleicht am ersten im Stande gewesen, die reine Lyrik zu pwa_149.034 sichern, wenn nur bei ihren Anschauungen öfter das rechte Verhältniss pwa_149.035 obgewaltet hätte zwischen dem Gemüth auf der einen und der Einbildung pwa_149.036 und dem Verstande auf der andern Seite, und wenn sie mehr pwa_149.037 Geschick in der Darstellung hätten erlernen wollen: es sind unter pwa_149.038 ihnen nur Johannes Baptista von Albertini (1769-1831; LB. 2, 1355) pwa_149.039 und Karl Bernhard Garve (1763-1841) zu nennen als geistliche Lyriker, pwa_149.040 die in den meisten Stücken tadellos, und wo sie tadellos, auch pwa_149.041 höchst ausgezeichnet sind.
pwa_149.001 haben alle Christen das Gleiche zu empfinden, und der Dichter wird pwa_149.002 im Namen der ganzen Gemeinde, der ganzen Christenheit sprechen, pwa_149.003 grade wie die ältere epische Lyrik der Griechen auch nicht für den pwa_149.004 Dichter allein sprach. Erst wenn der Dichter zu jener allgemeinen pwa_149.005 epischen Grundlage noch ein zweites, rein persönliches Motiv hinzufügt pwa_149.006 oder lediglich von einem solchen ausgeht, von einem innern oder pwa_149.007 äussern Ereigniss, das nur ihm gehört und kein Moment ist aus dem pwa_149.008 Leben aller Christenheit: erst dann hört sein Lied auf ein Kirchenlied, pwa_149.009 ein Lied der Gemeinde zu sein, und es wird ein ebenso subjectives pwa_149.010 geistliches Lied, wie die epische Lyrik der spätern Zeit Griechenlands pwa_149.011 auch in ihrer Weise rein subjectiv war. Natürlich ist die pwa_149.012 protestantische Kirche ärmer an episch-lyrischen Liedern, als die pwa_149.013 katholische Kirche es ist und war: denn die katholische Kirche hat pwa_149.014 zur Geschichte noch die Legende, hat noch eine christliche Mythologie, pwa_149.015 und auch die Geschichte erscheint für sie so mannigfaltig mythisch pwa_149.016 gefärbt, dass ihr religiöses Lied, was den Reichthum an epischen pwa_149.017 Motiven betrifft, nicht sehr weit hinter der epischen Lyrik der alten pwa_149.018 Welt zurückbleiben wird. Wir Protestanten können bei unsrer heilsamen pwa_149.019 Beschränkung auf die Geschichte nicht so viel halb epische, pwa_149.020 halb lyrische Kirchenlieder besitzen; denn solche Motive, die dem pwa_149.021 innern Leben der Christen angehören, werden natürlich nur zu rein pwa_149.022 lyrischen Dichtungen führen; noch öfter aber wird, da unsre geistliche pwa_149.023 Poesie auch dogmatische und ethische Zwecke zu verfolgen hat, pwa_149.024 hier die Lyrik eine didactische Farbe gewinnen, d. h. mit einem pwa_149.025 Fusse aus der Poesie heraustreten. Leider aber bilden solche didactische pwa_149.026 Kirchenlieder die Mehrzahl derer, die wir besitzen: unsre meisten pwa_149.027 Kirchenlieder stammen aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, pwa_149.028 aus dem siebzehnten, wo ein streithafter Dogmatismus die pwa_149.029 Kirche beherrschte, aus dem achtzehnten, wo ein seichter Moralismus pwa_149.030 an dessen Stelle trat; nur Wenige behaupteten sich als wahre Dichter pwa_149.031 in der epischen Lyrik und in der lyrischen Lyrik, wie Paul Gerhardt, pwa_149.032 Benjamin Schmolck u. a. (LB. 2, 467. 553). Die herrnhutischen Dichter pwa_149.033 wären vielleicht am ersten im Stande gewesen, die reine Lyrik zu pwa_149.034 sichern, wenn nur bei ihren Anschauungen öfter das rechte Verhältniss pwa_149.035 obgewaltet hätte zwischen dem Gemüth auf der einen und der Einbildung pwa_149.036 und dem Verstande auf der andern Seite, und wenn sie mehr pwa_149.037 Geschick in der Darstellung hätten erlernen wollen: es sind unter pwa_149.038 ihnen nur Johannes Baptista von Albertini (1769–1831; LB. 2, 1355) pwa_149.039 und Karl Bernhard Garve (1763–1841) zu nennen als geistliche Lyriker, pwa_149.040 die in den meisten Stücken tadellos, und wo sie tadellos, auch pwa_149.041 höchst ausgezeichnet sind.
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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/167>, abgerufen am 25.11.2024.
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