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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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in ihren Anfängen beschaffen waren, sprach da der Dichter immer pwa_125.002
noch weniger aus seiner Seele, aus seiner Individualität heraus, als pwa_125.003
aus der Seele seines Volkes, aus seiner Nationalität: aber diese pwa_125.004
Nationalität war selbst schon eine individuell beschränkte; es war pwa_125.005
nicht mehr die allgemein hellenische, sondern die speciell ionische pwa_125.006
oder dorische, grade wie diese elegischen und chorischen Dichter pwa_125.007
sich auch nicht mehr der alten epischen Gesammtsprache, sondern pwa_125.008
schon ihrer abgesonderten Mundart bedienten. Mit diesem Anschliessen pwa_125.009
an die nächste Gegenwart war denn aber der letzte Wendepunkt pwa_125.010
gegeben, an welchem die Poesie endlich in die reine und eigentliche pwa_125.011
Lyrik übertreten musste: wie von selbst schob sich an die Stelle der pwa_125.012
gegenwärtigen geschichtlichen Wirklichkeit die gegenwärtige Wirklichkeit pwa_125.013
überhaupt; nicht mehr bloss, was ausser dem Dichter grade pwa_125.014
geschah, sondern was überhaupt ausser ihm war, die ganze äussere pwa_125.015
Wirklichkeit ward der Anstoss zu lyrischen Anschauungen, und diese pwa_125.016
mussten um so subjectiver und individueller sein, je weniger eigentlich pwa_125.017
Geschichtliches in jenen anregenden Motiven lag. Diese leichte, aber pwa_125.018
entscheidende Wendung ist es, die überall nach den vorbereitenden pwa_125.019
Stufen, der lyrischen Epik und der epischen Lyrik, zuletzt die eigentlich pwa_125.020
lyrische Lyrik hinstellt; so ist's bei uns, so ist's bei den Griechen pwa_125.021
gewesen: die reine Lyrik der Aeolier hat sich erst nach der pwa_125.022
epischen Lyrik der Ionier und der Dorier gebildet. Die volle Bedeutung, pwa_125.023
welche nun endlich das dichterische Individuum gefunden hatte, pwa_125.024
zeigt sich, wenn man die äolische Lyrik mit der dorischen vergleicht, pwa_125.025
schon äusserlich auf das schlagendste darin, dass zum Vortrage der pwa_125.026
dorischen Dichtungen noch der Chor gehörte, gleichsam der Repräsentant pwa_125.027
des Volkes, in der äolischen dagegen der Gesang die Sache pwa_125.028
eines Einzigen war.

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Somit hätten wir nun bereits zwei Arten lyrischet Poesie: epischlyrische pwa_125.030
als Weiterbildung der lyrisch-epischen, und lyrisch-lyrische pwa_125.031
als Ziel und Ende des ganzen Weges. Aber auch die andre Mischart pwa_125.032
der Epik, auch die didactische Epik trieb ihre Sprossen in die Lyrik pwa_125.033
hinüber, und es erwuchs aus ihr auf diesem neuen Gebiete die didactische pwa_125.034
Lyrik, Lyrik, die sich anschliesst an ein zu lehrhaften Zwecken pwa_125.035
ergriffenes episches Motiv. Mithin haben wir drei Arten der Lyrik pwa_125.036
zu unterscheiden: 1) die epische Lyrik oder die Lyrik der Einbildungskraft, pwa_125.037
die Fortsetzung der lyrischen Epik, die sich anschliesst an pwa_125.038
epische Motive; 2) die didactische Lyrik oder die Lyrik des Verstandes, pwa_125.039
die Fortsetzung der didactischen Epik, welche lehrhafte Zwecke pwa_125.040
verfolgt, und 3) die lyrische Lyrik oder die Lyrik des Gefühls, der pwa_125.041
Gipfel, die Blüte und Frucht dieser ganzen Dichtungsart, ohne episches

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in ihren Anfängen beschaffen waren, sprach da der Dichter immer pwa_125.002
noch weniger aus seiner Seele, aus seiner Individualität heraus, als pwa_125.003
aus der Seele seines Volkes, aus seiner Nationalität: aber diese pwa_125.004
Nationalität war selbst schon eine individuell beschränkte; es war pwa_125.005
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sich auch nicht mehr der alten epischen Gesammtsprache, sondern pwa_125.008
schon ihrer abgesonderten Mundart bedienten. Mit diesem Anschliessen pwa_125.009
an die nächste Gegenwart war denn aber der letzte Wendepunkt pwa_125.010
gegeben, an welchem die Poesie endlich in die reine und eigentliche pwa_125.011
Lyrik übertreten musste: wie von selbst schob sich an die Stelle der pwa_125.012
gegenwärtigen geschichtlichen Wirklichkeit die gegenwärtige Wirklichkeit pwa_125.013
überhaupt; nicht mehr bloss, was ausser dem Dichter grade pwa_125.014
geschah, sondern was überhaupt ausser ihm war, die ganze äussere pwa_125.015
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Geschichtliches in jenen anregenden Motiven lag. Diese leichte, aber pwa_125.018
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Stufen, der lyrischen Epik und der epischen Lyrik, zuletzt die eigentlich pwa_125.020
lyrische Lyrik hinstellt; so ist's bei uns, so ist's bei den Griechen pwa_125.021
gewesen: die reine Lyrik der Aeolier hat sich erst nach der pwa_125.022
epischen Lyrik der Ionier und der Dorier gebildet. Die volle Bedeutung, pwa_125.023
welche nun endlich das dichterische Individuum gefunden hatte, pwa_125.024
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schon äusserlich auf das schlagendste darin, dass zum Vortrage der pwa_125.026
dorischen Dichtungen noch der Chor gehörte, gleichsam der Repräsentant pwa_125.027
des Volkes, in der äolischen dagegen der Gesang die Sache pwa_125.028
eines Einzigen war.

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Somit hätten wir nun bereits zwei Arten lyrischet Poesie: epischlyrische pwa_125.030
als Weiterbildung der lyrisch-epischen, und lyrisch-lyrische pwa_125.031
als Ziel und Ende des ganzen Weges. Aber auch die andre Mischart pwa_125.032
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hinüber, und es erwuchs aus ihr auf diesem neuen Gebiete die didactische pwa_125.034
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ergriffenes episches Motiv. Mithin haben wir drei Arten der Lyrik pwa_125.036
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/143>, abgerufen am 22.11.2024.