Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Neunzehnter Gesang.
Zwanzig Gänse hab' ich in meinem Hause, die freßen V. 536.
Weizen mit Waßer gemischt; und ich freue mich, wenn ich sie anseh.
Aber es kam ein großer und krummgeschnabelter Adler
Von dem Gebirg', und brach den Gänsen die Hälse; getödtet
Lagen sie all' im Haus', und er flog in die heilige Luft auf. 540
Und ich begann zu weinen, und schluchzt' im Traume. Da kamen,
Ringsumher, mich zu trösten, der Stadt schönlockige Frauen;
Aber ich jammerte laut, daß der Adler die Gänse getödtet.
Plözlich flog er zurück, und saß auf dem Simse des Rauchfangs,
Wandte sich tröstend zu mir, und sprach mit menschlicher Stimme: 545

Tochter des fernberühmten Ikarios, fröliches Mutes!
Nicht ein Traum ist dieses, ein Göttergesicht, das dir Heil bringt.
Jene Gänse sind Freier, und ich war eben ein Adler;
Aber jezo bin ich, dein Gatte, wieder gekommen,
Daß ich den Freiern allen ein schreckliches Ende bereite. 550

Also sprach der Adler. Der süße Schlummer verließ mich;
Eilend sah ich im Hause nach meinen Gänsen, und alle
Fraßen aus ihrem Troge den Weizen, so wie gewöhnlich.

Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odüßeus:
Fürstin, es wäre vergebens, nach einer anderen Deutung 555
Deines Traumes zu forschen. Dir sagte ja selber Odüßeus,
Wie er ihn denkt zu erfüllen. Verderben drohet den Freiern
Allzumal, und keiner entrinnt dem Todesverhängniß.

Ihm antwortete drauf die kluge Pänelopeia:
Fremdling, es giebt doch dunkle und unerklärbare Träume, 560
Und nicht alle verkünden der Menschen künftiges Schicksal.

V. 536. In einem Zimmer der hinteren Weiberwohnung.

Neunzehnter Geſang.
Zwanzig Gaͤnſe hab' ich in meinem Hauſe, die freßen V. 536.
Weizen mit Waßer gemiſcht; und ich freue mich, wenn ich ſie anſeh.
Aber es kam ein großer und krummgeſchnabelter Adler
Von dem Gebirg', und brach den Gaͤnſen die Haͤlſe; getoͤdtet
Lagen ſie all' im Hauſ', und er flog in die heilige Luft auf. 540
Und ich begann zu weinen, und ſchluchzt' im Traume. Da kamen,
Ringsumher, mich zu troͤſten, der Stadt ſchoͤnlockige Frauen;
Aber ich jammerte laut, daß der Adler die Gaͤnſe getoͤdtet.
Ploͤzlich flog er zuruͤck, und ſaß auf dem Simſe des Rauchfangs,
Wandte ſich troͤſtend zu mir, und ſprach mit menſchlicher Stimme: 545

Tochter des fernberuͤhmten Ikarios, froͤliches Mutes!
Nicht ein Traum iſt dieſes, ein Goͤttergeſicht, das dir Heil bringt.
Jene Gaͤnſe ſind Freier, und ich war eben ein Adler;
Aber jezo bin ich, dein Gatte, wieder gekommen,
Daß ich den Freiern allen ein ſchreckliches Ende bereite. 550

Alſo ſprach der Adler. Der ſuͤße Schlummer verließ mich;
Eilend ſah ich im Hauſe nach meinen Gaͤnſen, und alle
Fraßen aus ihrem Troge den Weizen, ſo wie gewoͤhnlich.

Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Oduͤßeus:
Fuͤrſtin, es waͤre vergebens, nach einer anderen Deutung 555
Deines Traumes zu forſchen. Dir ſagte ja ſelber Oduͤßeus,
Wie er ihn denkt zu erfuͤllen. Verderben drohet den Freiern
Allzumal, und keiner entrinnt dem Todesverhaͤngniß.

Ihm antwortete drauf die kluge Paͤnelopeia:
Fremdling, es giebt doch dunkle und unerklaͤrbare Traͤume, 560
Und nicht alle verkuͤnden der Menſchen kuͤnftiges Schickſal.

V. 536. In einem Zimmer der hinteren Weiberwohnung.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0387" n="381"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Neunzehnter Ge&#x017F;ang.</hi></fw><lb/>
Zwanzig Ga&#x0364;n&#x017F;e hab' ich in meinem Hau&#x017F;e, die freßen <note place="foot" n="V. 536."> In einem Zimmer der hinteren Weiberwohnung.</note><lb/>
Weizen mit Waßer gemi&#x017F;cht; und ich freue mich, wenn ich &#x017F;ie an&#x017F;eh.<lb/>
Aber es kam ein großer und krummge&#x017F;chnabelter Adler<lb/>
Von dem Gebirg', und brach den Ga&#x0364;n&#x017F;en die Ha&#x0364;l&#x017F;e; geto&#x0364;dtet<lb/>
Lagen &#x017F;ie all' im Hau&#x017F;', und er flog in die heilige Luft auf. <note place="right">540</note><lb/>
Und ich begann zu weinen, und &#x017F;chluchzt' im Traume. Da kamen,<lb/>
Ringsumher, mich zu tro&#x0364;&#x017F;ten, der Stadt &#x017F;cho&#x0364;nlockige Frauen;<lb/>
Aber ich jammerte laut, daß der Adler die Ga&#x0364;n&#x017F;e geto&#x0364;dtet.<lb/>
Plo&#x0364;zlich flog er zuru&#x0364;ck, und &#x017F;aß auf dem Sim&#x017F;e des Rauchfangs,<lb/>
Wandte &#x017F;ich tro&#x0364;&#x017F;tend zu mir, und &#x017F;prach mit men&#x017F;chlicher Stimme: <note place="right">545</note></p><lb/>
        <p>Tochter des fernberu&#x0364;hmten Ikarios, fro&#x0364;liches Mutes!<lb/>
Nicht ein Traum i&#x017F;t die&#x017F;es, ein Go&#x0364;tterge&#x017F;icht, das dir Heil bringt.<lb/>
Jene Ga&#x0364;n&#x017F;e &#x017F;ind Freier, und ich war eben ein Adler;<lb/>
Aber jezo bin ich, dein Gatte, wieder gekommen,<lb/>
Daß ich den Freiern allen ein &#x017F;chreckliches Ende bereite. <note place="right">550</note></p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o &#x017F;prach der Adler. Der &#x017F;u&#x0364;ße Schlummer verließ mich;<lb/>
Eilend &#x017F;ah ich im Hau&#x017F;e nach meinen Ga&#x0364;n&#x017F;en, und alle<lb/>
Fraßen aus ihrem Troge den Weizen, &#x017F;o wie gewo&#x0364;hnlich.</p><lb/>
        <p>Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odu&#x0364;ßeus:<lb/>
Fu&#x0364;r&#x017F;tin, es wa&#x0364;re vergebens, nach einer anderen Deutung <note place="right">555</note><lb/>
Deines Traumes zu for&#x017F;chen. Dir &#x017F;agte ja &#x017F;elber Odu&#x0364;ßeus,<lb/>
Wie er ihn denkt zu erfu&#x0364;llen. Verderben drohet den Freiern<lb/>
Allzumal, und keiner entrinnt dem Todesverha&#x0364;ngniß.</p><lb/>
        <p>Ihm antwortete drauf die kluge Pa&#x0364;nelopeia:<lb/>
Fremdling, es giebt doch dunkle und unerkla&#x0364;rbare Tra&#x0364;ume, <note place="right">560</note><lb/>
Und nicht alle verku&#x0364;nden der Men&#x017F;chen ku&#x0364;nftiges Schick&#x017F;al.<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[381/0387] Neunzehnter Geſang. Zwanzig Gaͤnſe hab' ich in meinem Hauſe, die freßen V. 536. Weizen mit Waßer gemiſcht; und ich freue mich, wenn ich ſie anſeh. Aber es kam ein großer und krummgeſchnabelter Adler Von dem Gebirg', und brach den Gaͤnſen die Haͤlſe; getoͤdtet Lagen ſie all' im Hauſ', und er flog in die heilige Luft auf. Und ich begann zu weinen, und ſchluchzt' im Traume. Da kamen, Ringsumher, mich zu troͤſten, der Stadt ſchoͤnlockige Frauen; Aber ich jammerte laut, daß der Adler die Gaͤnſe getoͤdtet. Ploͤzlich flog er zuruͤck, und ſaß auf dem Simſe des Rauchfangs, Wandte ſich troͤſtend zu mir, und ſprach mit menſchlicher Stimme: 540 545 Tochter des fernberuͤhmten Ikarios, froͤliches Mutes! Nicht ein Traum iſt dieſes, ein Goͤttergeſicht, das dir Heil bringt. Jene Gaͤnſe ſind Freier, und ich war eben ein Adler; Aber jezo bin ich, dein Gatte, wieder gekommen, Daß ich den Freiern allen ein ſchreckliches Ende bereite. 550 Alſo ſprach der Adler. Der ſuͤße Schlummer verließ mich; Eilend ſah ich im Hauſe nach meinen Gaͤnſen, und alle Fraßen aus ihrem Troge den Weizen, ſo wie gewoͤhnlich. Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Oduͤßeus: Fuͤrſtin, es waͤre vergebens, nach einer anderen Deutung Deines Traumes zu forſchen. Dir ſagte ja ſelber Oduͤßeus, Wie er ihn denkt zu erfuͤllen. Verderben drohet den Freiern Allzumal, und keiner entrinnt dem Todesverhaͤngniß. 555 Ihm antwortete drauf die kluge Paͤnelopeia: Fremdling, es giebt doch dunkle und unerklaͤrbare Traͤume, Und nicht alle verkuͤnden der Menſchen kuͤnftiges Schickſal. 560 V. 536. In einem Zimmer der hinteren Weiberwohnung.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/387
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/387>, abgerufen am 18.05.2024.