Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Zwölfter Gesang.
Jene sandte vom Ufer dem blaugeschnäbelten Schiffe
Günstigen segelschwellenden Wind, zum guten Begleiter,
Kirkä, die schöngelockte, die hehre melodische Göttin. 150
Eilig brachten wir jezt die Geräthe des Schiffes in Ordnung,
Saßen dann still, und ließen vom Wind' und Steuer uns lenken.
Jezo begann ich, und sprach zu den Freunden mit inniger Wehmut:

Freunde, nicht Einem allein, noch Zweenen, gebührt es zu wißen,
Welche Dinge mir Kirkä, die hohe Göttin, geweißagt. 155
Drum verkünd' ich sie euch, daß jeder sie wiße; wir mögen
Sterben, oder entfliehn dem schrecklichen Todesverhängniß.
Erst befiehlt uns die Göttin, der zauberischen Sirenen
Süße Stimme zu meiden, und ihre blumige Wiese.
Mir erlaubt sie allein, den Gesang zu hören; doch bindet 160
Ihr mich fest, damit ich kein Glied zu regen vermöge,
Aufrecht stehend am Maste, mit festumschlungenen Seilen.
Fleh' ich aber euch an, und befehle die Seile zu lösen;
Eilend feßelt mich dann mit mehreren Banden noch stärker.

Also verkündet' ich jezo den Freunden unser Verhängniß. 165
Und wie geflügelt entschwebte, vom freundlichen Winde getrieben,
Unser gerüstetes Schiff zu der Insel der beiden Sirenen.
Plözlich ruhte der Wind; von heiterer Bläue des Himmels
Glänzte die stille See; ein Himmlischer senkte die Waßer.
Meine Gefährten gingen, und falteten eilig die Segel, 170
Legten sie nieder im Schiff, und sezten sich hin an die Ruder;
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen.
Aber ich schnitt mit dem Schwert' aus der großen Scheibe des Wachses
Kleine Kugeln, knätete sie mit nervichten Händen;
Und bald weichte das Wachs, vom starken Drucke bezwungen, 175

Zwoͤlfter Geſang.
Jene ſandte vom Ufer dem blaugeſchnaͤbelten Schiffe
Guͤnſtigen ſegelſchwellenden Wind, zum guten Begleiter,
Kirkaͤ, die ſchoͤngelockte, die hehre melodiſche Goͤttin. 150
Eilig brachten wir jezt die Geraͤthe des Schiffes in Ordnung,
Saßen dann ſtill, und ließen vom Wind' und Steuer uns lenken.
Jezo begann ich, und ſprach zu den Freunden mit inniger Wehmut:

Freunde, nicht Einem allein, noch Zweenen, gebuͤhrt es zu wißen,
Welche Dinge mir Kirkaͤ, die hohe Goͤttin, geweißagt. 155
Drum verkuͤnd' ich ſie euch, daß jeder ſie wiße; wir moͤgen
Sterben, oder entfliehn dem ſchrecklichen Todesverhaͤngniß.
Erſt befiehlt uns die Goͤttin, der zauberiſchen Sirenen
Suͤße Stimme zu meiden, und ihre blumige Wieſe.
Mir erlaubt ſie allein, den Geſang zu hoͤren; doch bindet 160
Ihr mich feſt, damit ich kein Glied zu regen vermoͤge,
Aufrecht ſtehend am Maſte, mit feſtumſchlungenen Seilen.
Fleh' ich aber euch an, und befehle die Seile zu loͤſen;
Eilend feßelt mich dann mit mehreren Banden noch ſtaͤrker.

Alſo verkuͤndet' ich jezo den Freunden unſer Verhaͤngniß. 165
Und wie gefluͤgelt entſchwebte, vom freundlichen Winde getrieben,
Unſer geruͤſtetes Schiff zu der Inſel der beiden Sirenen.
Ploͤzlich ruhte der Wind; von heiterer Blaͤue des Himmels
Glaͤnzte die ſtille See; ein Himmliſcher ſenkte die Waßer.
Meine Gefaͤhrten gingen, und falteten eilig die Segel, 170
Legten ſie nieder im Schiff, und ſezten ſich hin an die Ruder;
Schaͤumend enthuͤpfte die Woge den ſchoͤngeglaͤtteten Tannen.
Aber ich ſchnitt mit dem Schwert' aus der großen Scheibe des Wachſes
Kleine Kugeln, knaͤtete ſie mit nervichten Haͤnden;
Und bald weichte das Wachs, vom ſtarken Drucke bezwungen, 175

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0241" n="235"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zwo&#x0364;lfter Ge&#x017F;ang.</hi></fw><lb/>
Jene &#x017F;andte vom Ufer dem blauge&#x017F;chna&#x0364;belten Schiffe<lb/>
Gu&#x0364;n&#x017F;tigen &#x017F;egel&#x017F;chwellenden Wind, zum guten Begleiter,<lb/>
Kirka&#x0364;, die &#x017F;cho&#x0364;ngelockte, die hehre melodi&#x017F;che Go&#x0364;ttin. <note place="right">150</note><lb/>
Eilig brachten wir jezt die Gera&#x0364;the des Schiffes in Ordnung,<lb/>
Saßen dann &#x017F;till, und ließen vom Wind' und Steuer uns lenken.<lb/>
Jezo begann ich, und &#x017F;prach zu den Freunden mit inniger Wehmut:</p><lb/>
        <p>Freunde, nicht Einem allein, noch Zweenen, gebu&#x0364;hrt es zu wißen,<lb/>
Welche Dinge mir Kirka&#x0364;, die hohe Go&#x0364;ttin, geweißagt. <note place="right">155</note><lb/>
Drum verku&#x0364;nd' ich &#x017F;ie euch, daß jeder &#x017F;ie wiße; wir mo&#x0364;gen<lb/>
Sterben, oder entfliehn dem &#x017F;chrecklichen Todesverha&#x0364;ngniß.<lb/>
Er&#x017F;t befiehlt uns die Go&#x0364;ttin, der zauberi&#x017F;chen Sirenen<lb/>
Su&#x0364;ße Stimme zu meiden, und ihre blumige Wie&#x017F;e.<lb/>
Mir erlaubt &#x017F;ie allein, den Ge&#x017F;ang zu ho&#x0364;ren; doch bindet <note place="right">160</note><lb/>
Ihr mich fe&#x017F;t, damit ich kein Glied zu regen vermo&#x0364;ge,<lb/>
Aufrecht &#x017F;tehend am Ma&#x017F;te, mit fe&#x017F;tum&#x017F;chlungenen Seilen.<lb/>
Fleh' ich aber euch an, und befehle die Seile zu lo&#x0364;&#x017F;en;<lb/>
Eilend feßelt mich dann mit mehreren Banden noch &#x017F;ta&#x0364;rker.</p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o verku&#x0364;ndet' ich jezo den Freunden un&#x017F;er Verha&#x0364;ngniß. <note place="right">165</note><lb/>
Und wie geflu&#x0364;gelt ent&#x017F;chwebte, vom freundlichen Winde getrieben,<lb/>
Un&#x017F;er geru&#x0364;&#x017F;tetes Schiff zu der In&#x017F;el der beiden Sirenen.<lb/>
Plo&#x0364;zlich ruhte der Wind; von heiterer Bla&#x0364;ue des Himmels<lb/>
Gla&#x0364;nzte die &#x017F;tille See; ein Himmli&#x017F;cher &#x017F;enkte die Waßer.<lb/>
Meine Gefa&#x0364;hrten gingen, und falteten eilig die Segel, <note place="right">170</note><lb/>
Legten &#x017F;ie nieder im Schiff, und &#x017F;ezten &#x017F;ich hin an die Ruder;<lb/>
Scha&#x0364;umend enthu&#x0364;pfte die Woge den &#x017F;cho&#x0364;ngegla&#x0364;tteten Tannen.<lb/>
Aber ich &#x017F;chnitt mit dem Schwert' aus der großen Scheibe des Wach&#x017F;es<lb/>
Kleine Kugeln, kna&#x0364;tete &#x017F;ie mit nervichten Ha&#x0364;nden;<lb/>
Und bald weichte das Wachs, vom &#x017F;tarken Drucke bezwungen, <note place="right">175</note><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[235/0241] Zwoͤlfter Geſang. Jene ſandte vom Ufer dem blaugeſchnaͤbelten Schiffe Guͤnſtigen ſegelſchwellenden Wind, zum guten Begleiter, Kirkaͤ, die ſchoͤngelockte, die hehre melodiſche Goͤttin. Eilig brachten wir jezt die Geraͤthe des Schiffes in Ordnung, Saßen dann ſtill, und ließen vom Wind' und Steuer uns lenken. Jezo begann ich, und ſprach zu den Freunden mit inniger Wehmut: 150 Freunde, nicht Einem allein, noch Zweenen, gebuͤhrt es zu wißen, Welche Dinge mir Kirkaͤ, die hohe Goͤttin, geweißagt. Drum verkuͤnd' ich ſie euch, daß jeder ſie wiße; wir moͤgen Sterben, oder entfliehn dem ſchrecklichen Todesverhaͤngniß. Erſt befiehlt uns die Goͤttin, der zauberiſchen Sirenen Suͤße Stimme zu meiden, und ihre blumige Wieſe. Mir erlaubt ſie allein, den Geſang zu hoͤren; doch bindet Ihr mich feſt, damit ich kein Glied zu regen vermoͤge, Aufrecht ſtehend am Maſte, mit feſtumſchlungenen Seilen. Fleh' ich aber euch an, und befehle die Seile zu loͤſen; Eilend feßelt mich dann mit mehreren Banden noch ſtaͤrker. 155 160 Alſo verkuͤndet' ich jezo den Freunden unſer Verhaͤngniß. Und wie gefluͤgelt entſchwebte, vom freundlichen Winde getrieben, Unſer geruͤſtetes Schiff zu der Inſel der beiden Sirenen. Ploͤzlich ruhte der Wind; von heiterer Blaͤue des Himmels Glaͤnzte die ſtille See; ein Himmliſcher ſenkte die Waßer. Meine Gefaͤhrten gingen, und falteten eilig die Segel, Legten ſie nieder im Schiff, und ſezten ſich hin an die Ruder; Schaͤumend enthuͤpfte die Woge den ſchoͤngeglaͤtteten Tannen. Aber ich ſchnitt mit dem Schwert' aus der großen Scheibe des Wachſes Kleine Kugeln, knaͤtete ſie mit nervichten Haͤnden; Und bald weichte das Wachs, vom ſtarken Drucke bezwungen, 165 170 175

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/241
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/241>, abgerufen am 04.05.2024.