Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Odüßee.
Drauf befahl ich und trieb die übrigen lieben Gefährten,100
Eilend von dannen zu fliehn, und sich in die Schiffe zu retten,
Daß man nicht, vom Lotos gereizt, der Heimat vergäße.
Und sie traten ins Schiff, und sezten sich hin auf die Bänke,
Saßen in Reihn, und schlugen die graue Woge mit Rudern.

Also steuerten wir mit trauriger Seele von dannen.105
Und zum Lande der wilden gesezelosen Küklopen V. 106.
Kamen wir jezt, der Riesen, die im Vertraun auf die Götter
Nimmer pflanzen noch sän, und nimmer die Erde beackern.
Ohne Samen und Pfleg' entkeimen alle Gewächse,
Weizen und Gerste dem Boden, und edle Reben, die tragen110
Wein in geschwollenen Trauben, und Gottes Regen ernährt ihn.
Dort ist weder Gesez, noch öffentliche Versammlung;
Sondern sie wohnen all' auf den Häuptern hoher Gebirge
In gehöhleten Felsen, und jeder richtet nach Willkühr
Seine Kinder und Weiber, und kümmert sich nicht um den andern.115

Gegenüber der Bucht des Küklopenlandes erstreckt sich,
Weder nahe noch fern, ein kleines waldichtes Eiland,
Welches unzählige Schaaren von wilden Ziegen durchstreifen.
Denn kein menschlicher Fuß durchdringt die verwachsene Wildniß;
Und nie scheuchet sie dort ein spürender Jäger, der mühsam120
Sich durch den Forst arbeitet, und steile Felsen umklettert.
Nirgends weidet ein Hirt, und nirgends ackert ein Pflüger;
Unbesäet liegt und unbeackert das Eiland
Ewig menschenleer, und nähret nur meckernde Ziegen.
Denn es gebricht den Küklopen an rothgeschnäbelten Schiffen,125

V. 106. Die Küklopen waren einäugige Riesen an der westlichen Spize Sizi-
liens. Die neuere Fabel versezt sie.

Oduͤßee.
Drauf befahl ich und trieb die uͤbrigen lieben Gefaͤhrten,100
Eilend von dannen zu fliehn, und ſich in die Schiffe zu retten,
Daß man nicht, vom Lotos gereizt, der Heimat vergaͤße.
Und ſie traten ins Schiff, und ſezten ſich hin auf die Baͤnke,
Saßen in Reihn, und ſchlugen die graue Woge mit Rudern.

Alſo ſteuerten wir mit trauriger Seele von dannen.105
Und zum Lande der wilden geſezeloſen Kuͤklopen V. 106.
Kamen wir jezt, der Rieſen, die im Vertraun auf die Goͤtter
Nimmer pflanzen noch ſaͤn, und nimmer die Erde beackern.
Ohne Samen und Pfleg' entkeimen alle Gewaͤchſe,
Weizen und Gerſte dem Boden, und edle Reben, die tragen110
Wein in geſchwollenen Trauben, und Gottes Regen ernaͤhrt ihn.
Dort iſt weder Geſez, noch oͤffentliche Verſammlung;
Sondern ſie wohnen all' auf den Haͤuptern hoher Gebirge
In gehoͤhleten Felſen, und jeder richtet nach Willkuͤhr
Seine Kinder und Weiber, und kuͤmmert ſich nicht um den andern.115

Gegenuͤber der Bucht des Kuͤklopenlandes erſtreckt ſich,
Weder nahe noch fern, ein kleines waldichtes Eiland,
Welches unzaͤhlige Schaaren von wilden Ziegen durchſtreifen.
Denn kein menſchlicher Fuß durchdringt die verwachſene Wildniß;
Und nie ſcheuchet ſie dort ein ſpuͤrender Jaͤger, der muͤhſam120
Sich durch den Forſt arbeitet, und ſteile Felſen umklettert.
Nirgends weidet ein Hirt, und nirgends ackert ein Pfluͤger;
Unbeſaͤet liegt und unbeackert das Eiland
Ewig menſchenleer, und naͤhret nur meckernde Ziegen.
Denn es gebricht den Kuͤklopen an rothgeſchnaͤbelten Schiffen,125

V. 106. Die Kuͤklopen waren einaͤugige Rieſen an der weſtlichen Spize Sizi-
liens. Die neuere Fabel verſezt ſie.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0172" n="166"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Odu&#x0364;ßee.</hi></fw><lb/>
Drauf befahl ich und trieb die u&#x0364;brigen lieben Gefa&#x0364;hrten,<note place="right">100</note><lb/>
Eilend von dannen zu fliehn, und &#x017F;ich in die Schiffe zu retten,<lb/>
Daß man nicht, vom Lotos gereizt, der Heimat verga&#x0364;ße.<lb/>
Und &#x017F;ie traten ins Schiff, und &#x017F;ezten &#x017F;ich hin auf die Ba&#x0364;nke,<lb/>
Saßen in Reihn, und &#x017F;chlugen die graue Woge mit Rudern.</p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o &#x017F;teuerten wir mit trauriger Seele von dannen.<note place="right">105</note><lb/>
Und zum Lande der wilden ge&#x017F;ezelo&#x017F;en Ku&#x0364;klopen <note place="foot" n="V. 106.">Die Ku&#x0364;klopen waren eina&#x0364;ugige Rie&#x017F;en an der we&#x017F;tlichen Spize Sizi-<lb/>
liens. Die neuere Fabel ver&#x017F;ezt &#x017F;ie.</note><lb/>
Kamen wir jezt, der Rie&#x017F;en, die im Vertraun auf die Go&#x0364;tter<lb/>
Nimmer pflanzen noch &#x017F;a&#x0364;n, und nimmer die Erde beackern.<lb/>
Ohne Samen und Pfleg' entkeimen alle Gewa&#x0364;ch&#x017F;e,<lb/>
Weizen und Ger&#x017F;te dem Boden, und edle Reben, die tragen<note place="right">110</note><lb/>
Wein in ge&#x017F;chwollenen Trauben, und Gottes Regen erna&#x0364;hrt ihn.<lb/>
Dort i&#x017F;t weder Ge&#x017F;ez, noch o&#x0364;ffentliche Ver&#x017F;ammlung;<lb/>
Sondern &#x017F;ie wohnen all' auf den Ha&#x0364;uptern hoher Gebirge<lb/>
In geho&#x0364;hleten Fel&#x017F;en, und jeder richtet nach Willku&#x0364;hr<lb/>
Seine Kinder und Weiber, und ku&#x0364;mmert &#x017F;ich nicht um den andern.<note place="right">115</note></p><lb/>
        <p>Gegenu&#x0364;ber der Bucht des Ku&#x0364;klopenlandes er&#x017F;treckt &#x017F;ich,<lb/>
Weder nahe noch fern, ein kleines waldichtes Eiland,<lb/>
Welches unza&#x0364;hlige Schaaren von wilden Ziegen durch&#x017F;treifen.<lb/>
Denn kein men&#x017F;chlicher Fuß durchdringt die verwach&#x017F;ene Wildniß;<lb/>
Und nie &#x017F;cheuchet &#x017F;ie dort ein &#x017F;pu&#x0364;render Ja&#x0364;ger, der mu&#x0364;h&#x017F;am<note place="right">120</note><lb/>
Sich durch den For&#x017F;t arbeitet, und &#x017F;teile Fel&#x017F;en umklettert.<lb/>
Nirgends weidet ein Hirt, und nirgends ackert ein Pflu&#x0364;ger;<lb/>
Unbe&#x017F;a&#x0364;et liegt und unbeackert das Eiland<lb/>
Ewig men&#x017F;chenleer, und na&#x0364;hret nur meckernde Ziegen.<lb/>
Denn es gebricht den Ku&#x0364;klopen an rothge&#x017F;chna&#x0364;belten Schiffen,<note place="right">125</note><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[166/0172] Oduͤßee. Drauf befahl ich und trieb die uͤbrigen lieben Gefaͤhrten, Eilend von dannen zu fliehn, und ſich in die Schiffe zu retten, Daß man nicht, vom Lotos gereizt, der Heimat vergaͤße. Und ſie traten ins Schiff, und ſezten ſich hin auf die Baͤnke, Saßen in Reihn, und ſchlugen die graue Woge mit Rudern. 100 Alſo ſteuerten wir mit trauriger Seele von dannen. Und zum Lande der wilden geſezeloſen Kuͤklopen V. 106. Kamen wir jezt, der Rieſen, die im Vertraun auf die Goͤtter Nimmer pflanzen noch ſaͤn, und nimmer die Erde beackern. Ohne Samen und Pfleg' entkeimen alle Gewaͤchſe, Weizen und Gerſte dem Boden, und edle Reben, die tragen Wein in geſchwollenen Trauben, und Gottes Regen ernaͤhrt ihn. Dort iſt weder Geſez, noch oͤffentliche Verſammlung; Sondern ſie wohnen all' auf den Haͤuptern hoher Gebirge In gehoͤhleten Felſen, und jeder richtet nach Willkuͤhr Seine Kinder und Weiber, und kuͤmmert ſich nicht um den andern. 105 110 115 Gegenuͤber der Bucht des Kuͤklopenlandes erſtreckt ſich, Weder nahe noch fern, ein kleines waldichtes Eiland, Welches unzaͤhlige Schaaren von wilden Ziegen durchſtreifen. Denn kein menſchlicher Fuß durchdringt die verwachſene Wildniß; Und nie ſcheuchet ſie dort ein ſpuͤrender Jaͤger, der muͤhſam Sich durch den Forſt arbeitet, und ſteile Felſen umklettert. Nirgends weidet ein Hirt, und nirgends ackert ein Pfluͤger; Unbeſaͤet liegt und unbeackert das Eiland Ewig menſchenleer, und naͤhret nur meckernde Ziegen. Denn es gebricht den Kuͤklopen an rothgeſchnaͤbelten Schiffen, 120 125 V. 106. Die Kuͤklopen waren einaͤugige Rieſen an der weſtlichen Spize Sizi- liens. Die neuere Fabel verſezt ſie.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/172
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/172>, abgerufen am 07.05.2024.