Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Sechster Gesang.
Als wenn Mann und Weib, in herzlicher Liebe vereinigt,
Ruhig ihr Haus verwalten: den Feinden ein kränkender Anblick,
Aber Wonne den Freunden; und mehr noch genießen sie selber! 185

Ihm antwortete drauf die lilienarmige Jungfrau:
Keinem geringen Manne noch thörichten gleichst du, o Fremdling.
Aber der Gott des Olümpos ertheilet selber den Menschen,
Vornehm oder geringe, nach seinem Gefallen ihr Schicksal.
Dieser beschied dir dein Loos, und dir geziemt es zu dulden. 190
Jezt, da du unserer Stadt und unsern Gefilden dich nahest,
Soll es weder an Kleidung, noch etwas anderm, dir mangeln,
Was unglücklichen Fremden, die Hülfe suchen, gebühret.
Zeigen will ich die Stadt, und des Volkes Namen dir sagen:
Wir Faiaken bewohnen die Stadt und diese Gefilde. 195
Aber ich selber bin des hohen Alkinoos Tochter,
Dem des faiakischen Volkes Gewalt und Stärke vertraut ist.

Also sprach sie, und rief den schöngelockten Gespielen:
Dirnen, steht mir doch still! Wo fliehet ihr hin vor dem Manne?
Meinet ihr etwa, er komme zu uns in feindlicher Absicht? 200
Wahrlich der lebt noch nicht, und niemals wird er geboren,
Welcher käm' in das Land der faiakischen Männer, mit Feindschaft
Unsre Ruhe zu stören; denn sehr geliebt von den Göttern,
Wohnen wir abgesondert im wogenrauschenden Meere,
An dem Ende der Welt, und haben mit keinem Gemeinschaft. 205
Nein, er kommt zu uns, ein armer irrender Fremdling,
Deßen man pflegen muß. Denn Zeus gehören ja alle
Fremdling' und Darbende an; und kleine Gaben erfreun auch.
Kommt denn, ihr Dirnen, und gebt dem Manne zu eßen und trinken;
Und dann badet ihn unten im Fluß, wo Schuz vor dem Wind' ist. 210

Sechſter Geſang.
Als wenn Mann und Weib, in herzlicher Liebe vereinigt,
Ruhig ihr Haus verwalten: den Feinden ein kraͤnkender Anblick,
Aber Wonne den Freunden; und mehr noch genießen ſie ſelber! 185

Ihm antwortete drauf die lilienarmige Jungfrau:
Keinem geringen Manne noch thoͤrichten gleichſt du, o Fremdling.
Aber der Gott des Oluͤmpos ertheilet ſelber den Menſchen,
Vornehm oder geringe, nach ſeinem Gefallen ihr Schickſal.
Dieſer beſchied dir dein Loos, und dir geziemt es zu dulden. 190
Jezt, da du unſerer Stadt und unſern Gefilden dich naheſt,
Soll es weder an Kleidung, noch etwas anderm, dir mangeln,
Was ungluͤcklichen Fremden, die Huͤlfe ſuchen, gebuͤhret.
Zeigen will ich die Stadt, und des Volkes Namen dir ſagen:
Wir Faiaken bewohnen die Stadt und dieſe Gefilde. 195
Aber ich ſelber bin des hohen Alkinoos Tochter,
Dem des faiakiſchen Volkes Gewalt und Staͤrke vertraut iſt.

Alſo ſprach ſie, und rief den ſchoͤngelockten Geſpielen:
Dirnen, ſteht mir doch ſtill! Wo fliehet ihr hin vor dem Manne?
Meinet ihr etwa, er komme zu uns in feindlicher Abſicht? 200
Wahrlich der lebt noch nicht, und niemals wird er geboren,
Welcher kaͤm' in das Land der faiakiſchen Maͤnner, mit Feindſchaft
Unſre Ruhe zu ſtoͤren; denn ſehr geliebt von den Goͤttern,
Wohnen wir abgeſondert im wogenrauſchenden Meere,
An dem Ende der Welt, und haben mit keinem Gemeinſchaft. 205
Nein, er kommt zu uns, ein armer irrender Fremdling,
Deßen man pflegen muß. Denn Zeus gehoͤren ja alle
Fremdling' und Darbende an; und kleine Gaben erfreun auch.
Kommt denn, ihr Dirnen, und gebt dem Manne zu eßen und trinken;
Und dann badet ihn unten im Fluß, wo Schuz vor dem Wind' iſt. 210

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0127" n="121"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Sech&#x017F;ter Ge&#x017F;ang.</hi></fw><lb/>
Als wenn Mann und Weib, in herzlicher Liebe vereinigt,<lb/>
Ruhig ihr Haus verwalten: den Feinden ein kra&#x0364;nkender Anblick,<lb/>
Aber Wonne den Freunden; und mehr noch genießen &#x017F;ie &#x017F;elber! <note place="right">185</note></p><lb/>
        <p>Ihm antwortete drauf die lilienarmige Jungfrau:<lb/>
Keinem geringen Manne noch tho&#x0364;richten gleich&#x017F;t du, o Fremdling.<lb/>
Aber der Gott des Olu&#x0364;mpos ertheilet &#x017F;elber den Men&#x017F;chen,<lb/>
Vornehm oder geringe, nach &#x017F;einem Gefallen ihr Schick&#x017F;al.<lb/>
Die&#x017F;er be&#x017F;chied dir dein Loos, und dir geziemt es zu dulden. <note place="right">190</note><lb/>
Jezt, da du un&#x017F;erer Stadt und un&#x017F;ern Gefilden dich nahe&#x017F;t,<lb/>
Soll es weder an Kleidung, noch etwas anderm, dir mangeln,<lb/>
Was unglu&#x0364;cklichen Fremden, die Hu&#x0364;lfe &#x017F;uchen, gebu&#x0364;hret.<lb/>
Zeigen will ich die Stadt, und des Volkes Namen dir &#x017F;agen:<lb/>
Wir Faiaken bewohnen die Stadt und die&#x017F;e Gefilde. <note place="right">195</note><lb/>
Aber ich &#x017F;elber bin des hohen Alkinoos Tochter,<lb/>
Dem des faiaki&#x017F;chen Volkes Gewalt und Sta&#x0364;rke vertraut i&#x017F;t.</p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o &#x017F;prach &#x017F;ie, und rief den &#x017F;cho&#x0364;ngelockten Ge&#x017F;pielen:<lb/>
Dirnen, &#x017F;teht mir doch &#x017F;till! Wo fliehet ihr hin vor dem Manne?<lb/>
Meinet ihr etwa, er komme zu uns in feindlicher Ab&#x017F;icht? <note place="right">200</note><lb/>
Wahrlich der lebt noch nicht, und niemals wird er geboren,<lb/>
Welcher ka&#x0364;m' in das Land der faiaki&#x017F;chen Ma&#x0364;nner, mit Feind&#x017F;chaft<lb/>
Un&#x017F;re Ruhe zu &#x017F;to&#x0364;ren; denn &#x017F;ehr geliebt von den Go&#x0364;ttern,<lb/>
Wohnen wir abge&#x017F;ondert im wogenrau&#x017F;chenden Meere,<lb/>
An dem Ende der Welt, und haben mit keinem Gemein&#x017F;chaft. <note place="right">205</note><lb/>
Nein, er kommt zu uns, ein armer irrender Fremdling,<lb/>
Deßen man pflegen muß. Denn Zeus geho&#x0364;ren ja alle<lb/>
Fremdling' und Darbende an; und kleine Gaben erfreun auch.<lb/>
Kommt denn, ihr Dirnen, und gebt dem Manne zu eßen und trinken;<lb/>
Und dann badet ihn unten im Fluß, wo Schuz vor dem Wind' i&#x017F;t. <note place="right">210</note></p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[121/0127] Sechſter Geſang. Als wenn Mann und Weib, in herzlicher Liebe vereinigt, Ruhig ihr Haus verwalten: den Feinden ein kraͤnkender Anblick, Aber Wonne den Freunden; und mehr noch genießen ſie ſelber! 185 Ihm antwortete drauf die lilienarmige Jungfrau: Keinem geringen Manne noch thoͤrichten gleichſt du, o Fremdling. Aber der Gott des Oluͤmpos ertheilet ſelber den Menſchen, Vornehm oder geringe, nach ſeinem Gefallen ihr Schickſal. Dieſer beſchied dir dein Loos, und dir geziemt es zu dulden. Jezt, da du unſerer Stadt und unſern Gefilden dich naheſt, Soll es weder an Kleidung, noch etwas anderm, dir mangeln, Was ungluͤcklichen Fremden, die Huͤlfe ſuchen, gebuͤhret. Zeigen will ich die Stadt, und des Volkes Namen dir ſagen: Wir Faiaken bewohnen die Stadt und dieſe Gefilde. Aber ich ſelber bin des hohen Alkinoos Tochter, Dem des faiakiſchen Volkes Gewalt und Staͤrke vertraut iſt. 190 195 Alſo ſprach ſie, und rief den ſchoͤngelockten Geſpielen: Dirnen, ſteht mir doch ſtill! Wo fliehet ihr hin vor dem Manne? Meinet ihr etwa, er komme zu uns in feindlicher Abſicht? Wahrlich der lebt noch nicht, und niemals wird er geboren, Welcher kaͤm' in das Land der faiakiſchen Maͤnner, mit Feindſchaft Unſre Ruhe zu ſtoͤren; denn ſehr geliebt von den Goͤttern, Wohnen wir abgeſondert im wogenrauſchenden Meere, An dem Ende der Welt, und haben mit keinem Gemeinſchaft. Nein, er kommt zu uns, ein armer irrender Fremdling, Deßen man pflegen muß. Denn Zeus gehoͤren ja alle Fremdling' und Darbende an; und kleine Gaben erfreun auch. Kommt denn, ihr Dirnen, und gebt dem Manne zu eßen und trinken; Und dann badet ihn unten im Fluß, wo Schuz vor dem Wind' iſt. 200 205 210

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/127
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/127>, abgerufen am 05.05.2024.