Genien! flammende Liebe des Vaterlandes, der Eltern, Und des Gemahls und des Herrn; und menschenerhaltende Kühnheit. Diese schimmernden Blumen, erfrischt vom Thaue des Himmels, Gab ich, in Kränze geflochten, der jungen ionischen Sprache. Und zur Priesterin weiht' ich die keusche heilige Jungfrau Im Orakel der hohen Natur: daß sie täglich, mit Nektar Sprengend die sternenhellen und töneduftenden Kränze, Aus dem Getön weißagte; und Völker von Morgen und Abend Beteten an die Natur, des Unendlichen sichtbare Gottheit. Aber nun stürmte der Schwarm des barbarischen Wahns und der Dummheit Wütend daher, und zerschlug den Altar, und vertilgte der Kränze Viele; die Priesterin floh mit den übrigen kaum in des Felsens Kluft, und starb. Und siehe! die Kränze meines Gesanges, Unerfrischt vom Nektar der Jungfrau, dufteten welkend Leiseren Laut, gleich fernverhallenden Harfentönen. Oft zwar stieg in die Kluft ein Beschwörer, vom Geiste der Jungfrau Nektar zu heischen; allein sie erschien, ein teuschendes Unbild, Und antwortete nicht dem ungeheiligten Schwäzer. Auch stieg manche hinab der lebenden Sprachen, der todten Priesterin Kränze zu rauben; doch schnell verschwanden die Kränze Unter der Buhlerin Hand: dann pflückte sie heimische Blumen, Aehnlich jenen, und flocht weißagende Kränze; mit Opfern
Genien! flammende Liebe des Vaterlandes, der Eltern, Und des Gemahls und des Herrn; und menſchenerhaltende Kuͤhnheit. Dieſe ſchimmernden Blumen, erfriſcht vom Thaue des Himmels, Gab ich, in Kraͤnze geflochten, der jungen ioniſchen Sprache. Und zur Prieſterin weiht' ich die keuſche heilige Jungfrau Im Orakel der hohen Natur: daß ſie taͤglich, mit Nektar Sprengend die ſternenhellen und toͤneduftenden Kraͤnze, Aus dem Getoͤn weißagte; und Voͤlker von Morgen und Abend Beteten an die Natur, des Unendlichen ſichtbare Gottheit. Aber nun ſtuͤrmte der Schwarm des barbariſchen Wahns und der Dummheit Wuͤtend daher, und zerſchlug den Altar, und vertilgte der Kraͤnze Viele; die Prieſterin floh mit den uͤbrigen kaum in des Felſens Kluft, und ſtarb. Und ſiehe! die Kraͤnze meines Geſanges, Unerfriſcht vom Nektar der Jungfrau, dufteten welkend Leiſeren Laut, gleich fernverhallenden Harfentoͤnen. Oft zwar ſtieg in die Kluft ein Beſchwoͤrer, vom Geiſte der Jungfrau Nektar zu heiſchen; allein ſie erſchien, ein teuſchendes Unbild, Und antwortete nicht dem ungeheiligten Schwaͤzer. Auch ſtieg manche hinab der lebenden Sprachen, der todten Prieſterin Kraͤnze zu rauben; doch ſchnell verſchwanden die Kraͤnze Unter der Buhlerin Hand: dann pfluͤckte ſie heimiſche Blumen, Aehnlich jenen, und flocht weißagende Kraͤnze; mit Opfern
<TEI><text><front><divtype="dedication"><divn="1"><p><pbfacs="#f0011"n="[5]"/>
Genien! flammende Liebe des Vaterlandes, der Eltern,<lb/>
Und des Gemahls und des Herrn; und menſchenerhaltende Kuͤhnheit.<lb/>
Dieſe ſchimmernden Blumen, erfriſcht vom Thaue des Himmels,<lb/>
Gab ich, in Kraͤnze geflochten, der jungen ioniſchen Sprache.<lb/>
Und zur Prieſterin weiht' ich die keuſche heilige Jungfrau<lb/>
Im Orakel der hohen Natur: daß ſie taͤglich, mit Nektar<lb/>
Sprengend die ſternenhellen und toͤneduftenden Kraͤnze,<lb/>
Aus dem Getoͤn weißagte; und Voͤlker von Morgen und Abend<lb/>
Beteten an die Natur, des Unendlichen ſichtbare Gottheit.<lb/>
Aber nun ſtuͤrmte der Schwarm des barbariſchen Wahns und der Dummheit<lb/>
Wuͤtend daher, und zerſchlug den Altar, und vertilgte der Kraͤnze<lb/>
Viele; die Prieſterin floh mit den uͤbrigen kaum in des Felſens<lb/>
Kluft, und ſtarb. Und ſiehe! die Kraͤnze meines Geſanges,<lb/>
Unerfriſcht vom Nektar der Jungfrau, dufteten welkend<lb/>
Leiſeren Laut, gleich fernverhallenden Harfentoͤnen.<lb/>
Oft zwar ſtieg in die Kluft ein Beſchwoͤrer, vom Geiſte der Jungfrau<lb/>
Nektar zu heiſchen; allein ſie erſchien, ein teuſchendes Unbild,<lb/>
Und antwortete nicht dem ungeheiligten Schwaͤzer.<lb/>
Auch ſtieg manche hinab der lebenden Sprachen, der todten<lb/>
Prieſterin Kraͤnze zu rauben; doch ſchnell verſchwanden die Kraͤnze<lb/>
Unter der Buhlerin Hand: dann pfluͤckte ſie heimiſche Blumen,<lb/>
Aehnlich jenen, und flocht weißagende Kraͤnze; mit Opfern<lb/></p></div></div></front></text></TEI>
[[5]/0011]
Genien! flammende Liebe des Vaterlandes, der Eltern,
Und des Gemahls und des Herrn; und menſchenerhaltende Kuͤhnheit.
Dieſe ſchimmernden Blumen, erfriſcht vom Thaue des Himmels,
Gab ich, in Kraͤnze geflochten, der jungen ioniſchen Sprache.
Und zur Prieſterin weiht' ich die keuſche heilige Jungfrau
Im Orakel der hohen Natur: daß ſie taͤglich, mit Nektar
Sprengend die ſternenhellen und toͤneduftenden Kraͤnze,
Aus dem Getoͤn weißagte; und Voͤlker von Morgen und Abend
Beteten an die Natur, des Unendlichen ſichtbare Gottheit.
Aber nun ſtuͤrmte der Schwarm des barbariſchen Wahns und der Dummheit
Wuͤtend daher, und zerſchlug den Altar, und vertilgte der Kraͤnze
Viele; die Prieſterin floh mit den uͤbrigen kaum in des Felſens
Kluft, und ſtarb. Und ſiehe! die Kraͤnze meines Geſanges,
Unerfriſcht vom Nektar der Jungfrau, dufteten welkend
Leiſeren Laut, gleich fernverhallenden Harfentoͤnen.
Oft zwar ſtieg in die Kluft ein Beſchwoͤrer, vom Geiſte der Jungfrau
Nektar zu heiſchen; allein ſie erſchien, ein teuſchendes Unbild,
Und antwortete nicht dem ungeheiligten Schwaͤzer.
Auch ſtieg manche hinab der lebenden Sprachen, der todten
Prieſterin Kraͤnze zu rauben; doch ſchnell verſchwanden die Kraͤnze
Unter der Buhlerin Hand: dann pfluͤckte ſie heimiſche Blumen,
Aehnlich jenen, und flocht weißagende Kraͤnze; mit Opfern
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. [5]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/11>, abgerufen am 18.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.