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Dr. Vollmer’s Wörterbuch der Mythologie aller Völker. 3. Aufl. Stuttgart, 1874.

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man indessen, dass auch diese Völker, die Heiden, für ihre Anschauungen das bedeutungsvolle Gepräge einer Religion beanspruchen, die man zu achten hat, mag sie immerhin eine blosse Naturreligion zu heissen sein. Denn in der That, der Name Naturreligion ist ein sehr würdiger Name, zwar dem Namen der "geoffenbarten" Religion der Christen gegenübergestellt, aber durchaus nicht zur Schmähung oder Beschimpfung der ersteren. Die Natur und die Begriffe von der Natur, wie wir endlich eingesehen haben, stehen viel zu hoch, als dass Jemand berechtigt wäre, einer aus der Quelle der Natur entsprossenen Vorstellung des Göttlichen übermüthige und achtungslose Blicke zuzuwerfen. Der Christ wäre sehr voreilig, das zu thun; im Gegentheil ist er verpflichtet, vor allen Dingen dasjenige, was andern Völkern wahrhaft ehrwürdig erschienen ist oder noch immer ehrwürdig erscheint, um seiner eigenen Religion willen mit keinen spöttischen Augen herabwürdigend zu betrachten. Aus dem Nachfolgenden wird diess für Jedermann deutlich erhellen.

Zunächst wenden wir uns zu der doppelten Frage: erstens, wie alt ist die Mythologie oder wann hat sie begonnen, und zweitens, wie ist sie entstanden? Denn mit ihrem Alter möchte wohl zugleich auch die Art und Weise ihrer Entstehung verknüpft sein. Die Antwort auf diese beiden Fragen ist schwierig, wie wir gleich sehen werden. Denn wir sind gezwungen, einen kleinen Versuch zu machen, in die fernsten, dunkelsten und unabsehbarsten Zeiträume zurückzuschauen und einzudringen.

Sagen wir kurz: das Alter der Mythologie zu bestimmen, würde einzig und allein dann möglich sein, wenn es uns gelingen sollte, die Frage über das Alter und den Ursprung des Menschengeschlechts selbst, wenigstens einigermassen zur Befriedigung unserer Wissbegierde, auf eine irgendwie wahrscheinliche Weise zu lösen. Freilich, die geringste Andeutung auf dem Gebiete der Menschenerschaffung setzt sich den mannigfaltigsten Zweifeln des Denkers aus, davon abgesehen, ob nicht vielleicht diese ganze Frage so beschaffen ist, dass sie in ein ewiges Räthsel für unser sterbliches Auge eingehüllt bleiben wird. Die heutigen Naturforscher nehmen allerdings die tiefsinnigsten und interessantesten Anläufe zur Ergründung des organischen Lebens auf diesem Erdball und zur Erklärung der Entstehung, Fortpflanzung und Umwandlung der Geschöpfe, in der Hoffnung, das allmälige Werden der Formen, Gattungen und Arten, die uns bis auf diesen Tag entgegentreten, schliesslich entziffern zu können. Allein trotz der Ausnützung aller seitheriger Erfahrungen, wie sie die Wissenschaft an die Hand giebt, sind sie in den wesentlichsten Punkten auf Vermuthungen (Hypothesen) angewiesen, und diese Vermuthungen begegnen immer und immer wieder vielfachen Einwendungen oder stossen auf unausfüllbare Lücken in dem Gewebe der kühnsten aller sterblichen Untersuchungen. Gelänge ihnen die erhabene Aufgabe, einen halbwegs sicheren Grund für ihre Annahmen zu entdecken, und den Schleier auch nur eines einzigen Punktes zu lüften, der von durchgreifender Wichtigkeit wäre, so würden wir uns auch in den Stand gesetzt sehen, die Anfänge dessen, was wir oben als den Inhalt der Mythologie zusammengefasst haben, mit grösserer Sicherheit zu beleuchten und besser als seither den Gang der frühsten geistigen Entwicklung der Menschen zu verfolgen, zu errathen und festzustellen. So lange aber die Schritte der Naturforschung nicht weiter vorgerückt sind, wird uns nichts übrig bleiben, als auf dem Gebiete der Mythologie gleichfalls vermuthungsweise zu verfahren, das Glaubliche mit leichten Strichen zu zeichnen, und zur Stütze die mündliche und schriftliche Ueberlieferung der Zeiten zu nehmen, im Uebrigen aber den Flug der Phantasie einzuschränken, selbst wenn sie von den Schwingen der Philosophie getragen würde.

man indessen, dass auch diese Völker, die Heiden, für ihre Anschauungen das bedeutungsvolle Gepräge einer Religion beanspruchen, die man zu achten hat, mag sie immerhin eine blosse Naturreligion zu heissen sein. Denn in der That, der Name Naturreligion ist ein sehr würdiger Name, zwar dem Namen der »geoffenbarten« Religion der Christen gegenübergestellt, aber durchaus nicht zur Schmähung oder Beschimpfung der ersteren. Die Natur und die Begriffe von der Natur, wie wir endlich eingesehen haben, stehen viel zu hoch, als dass Jemand berechtigt wäre, einer aus der Quelle der Natur entsprossenen Vorstellung des Göttlichen übermüthige und achtungslose Blicke zuzuwerfen. Der Christ wäre sehr voreilig, das zu thun; im Gegentheil ist er verpflichtet, vor allen Dingen dasjenige, was andern Völkern wahrhaft ehrwürdig erschienen ist oder noch immer ehrwürdig erscheint, um seiner eigenen Religion willen mit keinen spöttischen Augen herabwürdigend zu betrachten. Aus dem Nachfolgenden wird diess für Jedermann deutlich erhellen.

Zunächst wenden wir uns zu der doppelten Frage: erstens, wie alt ist die Mythologie oder wann hat sie begonnen, und zweitens, wie ist sie entstanden? Denn mit ihrem Alter möchte wohl zugleich auch die Art und Weise ihrer Entstehung verknüpft sein. Die Antwort auf diese beiden Fragen ist schwierig, wie wir gleich sehen werden. Denn wir sind gezwungen, einen kleinen Versuch zu machen, in die fernsten, dunkelsten und unabsehbarsten Zeiträume zurückzuschauen und einzudringen.

Sagen wir kurz: das Alter der Mythologie zu bestimmen, würde einzig und allein dann möglich sein, wenn es uns gelingen sollte, die Frage über das Alter und den Ursprung des Menschengeschlechts selbst, wenigstens einigermassen zur Befriedigung unserer Wissbegierde, auf eine irgendwie wahrscheinliche Weise zu lösen. Freilich, die geringste Andeutung auf dem Gebiete der Menschenerschaffung setzt sich den mannigfaltigsten Zweifeln des Denkers aus, davon abgesehen, ob nicht vielleicht diese ganze Frage so beschaffen ist, dass sie in ein ewiges Räthsel für unser sterbliches Auge eingehüllt bleiben wird. Die heutigen Naturforscher nehmen allerdings die tiefsinnigsten und interessantesten Anläufe zur Ergründung des organischen Lebens auf diesem Erdball und zur Erklärung der Entstehung, Fortpflanzung und Umwandlung der Geschöpfe, in der Hoffnung, das allmälige Werden der Formen, Gattungen und Arten, die uns bis auf diesen Tag entgegentreten, schliesslich entziffern zu können. Allein trotz der Ausnützung aller seitheriger Erfahrungen, wie sie die Wissenschaft an die Hand giebt, sind sie in den wesentlichsten Punkten auf Vermuthungen (Hypothesen) angewiesen, und diese Vermuthungen begegnen immer und immer wieder vielfachen Einwendungen oder stossen auf unausfüllbare Lücken in dem Gewebe der kühnsten aller sterblichen Untersuchungen. Gelänge ihnen die erhabene Aufgabe, einen halbwegs sicheren Grund für ihre Annahmen zu entdecken, und den Schleier auch nur eines einzigen Punktes zu lüften, der von durchgreifender Wichtigkeit wäre, so würden wir uns auch in den Stand gesetzt sehen, die Anfänge dessen, was wir oben als den Inhalt der Mythologie zusammengefasst haben, mit grösserer Sicherheit zu beleuchten und besser als seither den Gang der frühsten geistigen Entwicklung der Menschen zu verfolgen, zu errathen und festzustellen. So lange aber die Schritte der Naturforschung nicht weiter vorgerückt sind, wird uns nichts übrig bleiben, als auf dem Gebiete der Mythologie gleichfalls vermuthungsweise zu verfahren, das Glaubliche mit leichten Strichen zu zeichnen, und zur Stütze die mündliche und schriftliche Ueberlieferung der Zeiten zu nehmen, im Uebrigen aber den Flug der Phantasie einzuschränken, selbst wenn sie von den Schwingen der Philosophie getragen würde.

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Zitationshilfe: Dr. Vollmer’s Wörterbuch der Mythologie aller Völker. 3. Aufl. Stuttgart, 1874, S. IV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vollmer_mythologie_1874/4>, abgerufen am 23.11.2024.