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Vogt, Carl: Zoologische Briefe. Bd. 2. Frankfurt (Main), 1851.

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bemerkt, hervor, daß das hauptsächliche Uebergewicht des menschlichen
Gehirnes in der Entwickelung der vorderen und hinteren Theile der
großen Hemisphären zu suchen ist, und als einen physiologischen Er-
fahrungssatz dürfen wir annehmen, daß die vorderen Theile des Ge-
hirnes hauptsächlich die Werkstätten der Reflexion, die hinteren Theile,
so wie das kleine Gehirn, der Sitz der Coordination der Bewegun-
gen sind. Um die Sprache zu bilden bedarf es aber dieser beiden
Elemente, einerseits der Reflexion und der schaffenden Gedanken, an-
derseits der Coordination bestimmter Bewegungen, um gewisse, dem
Gedanken entsprechende und dadurch Andern verständliche Laute zu
erzeugen und an einander zu reihen. Es würde sich fragen, ob die
Entwickelung der vorderen Hemisphärenlappen mehr mit dem ideellen
Reichthume der Sprache an Ausdrücken für abstrakte Begriffe, die
Entwickelung der hinteren Hemisphärenlappen mehr mit dem materiel-
len Reichthume an Lauten, Wurzeln und grammatikalischen Beugun-
gen zusammenhängt. Ein dürftiger Anhaltspunkt für Untersuchungen
der Art ist uns darin gegeben, daß die Sprachen der meisten Völker,
welche stark vorragende Kiefer und eine zurückweichende Stirne, also
eine geringere Entwickelung der vorderen Hemisphärenlappen besitzen,
meist nur Bezeichnungen für concrete Gegenstände und Erscheinungen
haben, der Worte für abstracte Gegenstände aber gänzlich entbehren,
während bei den meisten dieser Völker bei einer ebenso bedeutenden
Entwickelung der hinteren Hemisphärenlappen der Reichthum der
Sprache an Lauten den übrigen Sprachen nichts nachgiebt.

Die Entwickelung des Embryo's findet bei dem Menschen
ganz in ähnlicher Weise statt, wie bei den Säugethieren und ist an
dieselben Bedingungen der freiwilligen Loslösung eines Eies in perio-
disch wiederkehrender Zeit und die Begegnung des Eichens mit be-
fruchtungsfähigem Samen, bevor es in den Fruchthälter eintritt, ge-
knüpft. Die ersten Zeiten der Entwickelung, namentlich die Verän-
derungen des menschlichen Eies in dem Eileiter und die ersten Bildungen
des Embryo's nach der Fixirung des Eies in der Gebärmutter sind
bis jetzt durchaus unbekannt, da die äußerst zarten Objekte sehr kurze
Zeit nach dem Tode schon der Zersetzung anheim gefallen sind. Aus
der Kenntniß der frühesten, gut erhaltenen Embryonen, die wir be-
sitzen, geht hervor, daß diese ersten Bildungszustände von den bei
den Säugethieren bekannten nicht wesentlich verschieden sein können.

Vogt. Zoologische Briefe. II. 35

bemerkt, hervor, daß das hauptſächliche Uebergewicht des menſchlichen
Gehirnes in der Entwickelung der vorderen und hinteren Theile der
großen Hemiſphären zu ſuchen iſt, und als einen phyſiologiſchen Er-
fahrungsſatz dürfen wir annehmen, daß die vorderen Theile des Ge-
hirnes hauptſächlich die Werkſtätten der Reflexion, die hinteren Theile,
ſo wie das kleine Gehirn, der Sitz der Coordination der Bewegun-
gen ſind. Um die Sprache zu bilden bedarf es aber dieſer beiden
Elemente, einerſeits der Reflexion und der ſchaffenden Gedanken, an-
derſeits der Coordination beſtimmter Bewegungen, um gewiſſe, dem
Gedanken entſprechende und dadurch Andern verſtändliche Laute zu
erzeugen und an einander zu reihen. Es würde ſich fragen, ob die
Entwickelung der vorderen Hemiſphärenlappen mehr mit dem ideellen
Reichthume der Sprache an Ausdrücken für abſtrakte Begriffe, die
Entwickelung der hinteren Hemiſphärenlappen mehr mit dem materiel-
len Reichthume an Lauten, Wurzeln und grammatikaliſchen Beugun-
gen zuſammenhängt. Ein dürftiger Anhaltspunkt für Unterſuchungen
der Art iſt uns darin gegeben, daß die Sprachen der meiſten Völker,
welche ſtark vorragende Kiefer und eine zurückweichende Stirne, alſo
eine geringere Entwickelung der vorderen Hemiſphärenlappen beſitzen,
meiſt nur Bezeichnungen für concrete Gegenſtände und Erſcheinungen
haben, der Worte für abſtracte Gegenſtände aber gänzlich entbehren,
während bei den meiſten dieſer Völker bei einer ebenſo bedeutenden
Entwickelung der hinteren Hemiſphärenlappen der Reichthum der
Sprache an Lauten den übrigen Sprachen nichts nachgiebt.

Die Entwickelung des Embryo’s findet bei dem Menſchen
ganz in ähnlicher Weiſe ſtatt, wie bei den Säugethieren und iſt an
dieſelben Bedingungen der freiwilligen Loslöſung eines Eies in perio-
diſch wiederkehrender Zeit und die Begegnung des Eichens mit be-
fruchtungsfähigem Samen, bevor es in den Fruchthälter eintritt, ge-
knüpft. Die erſten Zeiten der Entwickelung, namentlich die Verän-
derungen des menſchlichen Eies in dem Eileiter und die erſten Bildungen
des Embryo’s nach der Fixirung des Eies in der Gebärmutter ſind
bis jetzt durchaus unbekannt, da die äußerſt zarten Objekte ſehr kurze
Zeit nach dem Tode ſchon der Zerſetzung anheim gefallen ſind. Aus
der Kenntniß der früheſten, gut erhaltenen Embryonen, die wir be-
ſitzen, geht hervor, daß dieſe erſten Bildungszuſtände von den bei
den Säugethieren bekannten nicht weſentlich verſchieden ſein können.

Vogt. Zoologiſche Briefe. II. 35
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[545/0551] bemerkt, hervor, daß das hauptſächliche Uebergewicht des menſchlichen Gehirnes in der Entwickelung der vorderen und hinteren Theile der großen Hemiſphären zu ſuchen iſt, und als einen phyſiologiſchen Er- fahrungsſatz dürfen wir annehmen, daß die vorderen Theile des Ge- hirnes hauptſächlich die Werkſtätten der Reflexion, die hinteren Theile, ſo wie das kleine Gehirn, der Sitz der Coordination der Bewegun- gen ſind. Um die Sprache zu bilden bedarf es aber dieſer beiden Elemente, einerſeits der Reflexion und der ſchaffenden Gedanken, an- derſeits der Coordination beſtimmter Bewegungen, um gewiſſe, dem Gedanken entſprechende und dadurch Andern verſtändliche Laute zu erzeugen und an einander zu reihen. Es würde ſich fragen, ob die Entwickelung der vorderen Hemiſphärenlappen mehr mit dem ideellen Reichthume der Sprache an Ausdrücken für abſtrakte Begriffe, die Entwickelung der hinteren Hemiſphärenlappen mehr mit dem materiel- len Reichthume an Lauten, Wurzeln und grammatikaliſchen Beugun- gen zuſammenhängt. Ein dürftiger Anhaltspunkt für Unterſuchungen der Art iſt uns darin gegeben, daß die Sprachen der meiſten Völker, welche ſtark vorragende Kiefer und eine zurückweichende Stirne, alſo eine geringere Entwickelung der vorderen Hemiſphärenlappen beſitzen, meiſt nur Bezeichnungen für concrete Gegenſtände und Erſcheinungen haben, der Worte für abſtracte Gegenſtände aber gänzlich entbehren, während bei den meiſten dieſer Völker bei einer ebenſo bedeutenden Entwickelung der hinteren Hemiſphärenlappen der Reichthum der Sprache an Lauten den übrigen Sprachen nichts nachgiebt. Die Entwickelung des Embryo’s findet bei dem Menſchen ganz in ähnlicher Weiſe ſtatt, wie bei den Säugethieren und iſt an dieſelben Bedingungen der freiwilligen Loslöſung eines Eies in perio- diſch wiederkehrender Zeit und die Begegnung des Eichens mit be- fruchtungsfähigem Samen, bevor es in den Fruchthälter eintritt, ge- knüpft. Die erſten Zeiten der Entwickelung, namentlich die Verän- derungen des menſchlichen Eies in dem Eileiter und die erſten Bildungen des Embryo’s nach der Fixirung des Eies in der Gebärmutter ſind bis jetzt durchaus unbekannt, da die äußerſt zarten Objekte ſehr kurze Zeit nach dem Tode ſchon der Zerſetzung anheim gefallen ſind. Aus der Kenntniß der früheſten, gut erhaltenen Embryonen, die wir be- ſitzen, geht hervor, daß dieſe erſten Bildungszuſtände von den bei den Säugethieren bekannten nicht weſentlich verſchieden ſein können. Vogt. Zoologiſche Briefe. II. 35

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Zitationshilfe: Vogt, Carl: Zoologische Briefe. Bd. 2. Frankfurt (Main), 1851, S. 545. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vogt_briefe02_1851/551>, abgerufen am 23.05.2024.