Leben fristen könne. Man untersucht die Structur der Organe, welche diesen wunderbaren Thierleib zusammensetzen; man vergleicht die gefundene Organisation mit derjenigen der bekannteren Thiere, man entdeckt innere Merkmale, welche geeignet erscheinen, die mannichfaltigen Formen unter gemeinschaftliche Gesichtspunkte unterzuordnen. Die natürlichen Hilfs- mittel des menschlichen Körpers genügen zur Forschung nicht mehr; man schärft die Sehkraft der Augen durch Lupen und Mikroskope und steht erstaunt vor einer neuen Welt, deren Kleinheit sie bisher dem Auge entzog. Unermüdlich und rastlos dringt man weiter auf den ge- öffneten Wegen, hier suchend und forschend, dort ordnend und ein- reihend. Von dem kleinsten Thiere will man wissen, wie es entstehe, lebe, sich fortpflanze und zu Grunde gehe; jedes bekannte Geschöpf will man neben seinen Nachbarn und natürlichen Verwandten einreihen in das Register, welches nach streng gesetzmäßigen Normen die Namen und deren Bedeutung aufnimmt. Ein neues Feld eröffnet sich. In den Tiefen der Erde, in den Schichten der Felsen hat man eine Menge von versteinerten Körpern gefunden, deren Aehnlichkeit mit Schnecken und Muscheln, mit Knochen und Gehäusen sie anfänglich für Naturspiele halten läßt, bis man entdeckt, daß die Reste untergegangener Schöpfungen hier der zerstörenden Kraft von Jahrtausenden entgangen sind und daß es nur der genauen Untersuchung der jetzt lebenden Thiere bedarf, um diese längst vernichteten Geschöpfe vor unserm geistigen Auge wieder erstehen zu lassen und sie ihren Verwandten näher zu bringen.
Wir sind an der Aufgabe der heutigen zoologischen Wissenschaft angelangt. Sie soll uns die unendliche Mannichfaltigkeit der thieri- schen Formen, welche den Erdball jetzt bevölkern und früher bewohn- ten, vor die Augen führen; nicht in einem ungeordneten Haufen, aus dem nur hie und da eine auffallende Gestalt hervorsieht, sondern wie ein wohlgeordnetes Heer, dessen einzelne Waffengattungen in be- stimmter und geschlossener Reihe vorüberziehen, so daß die Eigenthüm- lichkeiten eines jeden Gliedes bemerkt, kritisch untersucht und gewürdigt werden können; sie soll uns zeigen, wie diese verschiedenen Gruppen in ihrem Junern gestaltet, wie diese Organismen beschaffen sind und in wel- chem Verhältniß diese Beschaffenheit zu derjenigen anderer Gruppen steht; sie soll uns die Geschichte eines jeden klar machen, von seiner ersten Entstehung an bis zu seiner Auflösung in die Elemente; sie soll end- lich die Gräber aufdecken und zeigen, welche Verwandte, welche Ah- nen in unendlichen Generationsfolgen in den Schichten der Erde begra- ben liegen. Es ist wahrlich nicht die trockene Aufzählung der Thiere und ihrer äußern Merkmale, welche das letzte Ziel der zoologischen Wissen-
Leben friſten könne. Man unterſucht die Structur der Organe, welche dieſen wunderbaren Thierleib zuſammenſetzen; man vergleicht die gefundene Organiſation mit derjenigen der bekannteren Thiere, man entdeckt innere Merkmale, welche geeignet erſcheinen, die mannichfaltigen Formen unter gemeinſchaftliche Geſichtspunkte unterzuordnen. Die natürlichen Hilfs- mittel des menſchlichen Körpers genügen zur Forſchung nicht mehr; man ſchärft die Sehkraft der Augen durch Lupen und Mikroskope und ſteht erſtaunt vor einer neuen Welt, deren Kleinheit ſie bisher dem Auge entzog. Unermüdlich und raſtlos dringt man weiter auf den ge- öffneten Wegen, hier ſuchend und forſchend, dort ordnend und ein- reihend. Von dem kleinſten Thiere will man wiſſen, wie es entſtehe, lebe, ſich fortpflanze und zu Grunde gehe; jedes bekannte Geſchöpf will man neben ſeinen Nachbarn und natürlichen Verwandten einreihen in das Regiſter, welches nach ſtreng geſetzmäßigen Normen die Namen und deren Bedeutung aufnimmt. Ein neues Feld eröffnet ſich. In den Tiefen der Erde, in den Schichten der Felſen hat man eine Menge von verſteinerten Körpern gefunden, deren Aehnlichkeit mit Schnecken und Muſcheln, mit Knochen und Gehäuſen ſie anfänglich für Naturſpiele halten läßt, bis man entdeckt, daß die Reſte untergegangener Schöpfungen hier der zerſtörenden Kraft von Jahrtauſenden entgangen ſind und daß es nur der genauen Unterſuchung der jetzt lebenden Thiere bedarf, um dieſe längſt vernichteten Geſchöpfe vor unſerm geiſtigen Auge wieder erſtehen zu laſſen und ſie ihren Verwandten näher zu bringen.
Wir ſind an der Aufgabe der heutigen zoologiſchen Wiſſenſchaft angelangt. Sie ſoll uns die unendliche Mannichfaltigkeit der thieri- ſchen Formen, welche den Erdball jetzt bevölkern und früher bewohn- ten, vor die Augen führen; nicht in einem ungeordneten Haufen, aus dem nur hie und da eine auffallende Geſtalt hervorſieht, ſondern wie ein wohlgeordnetes Heer, deſſen einzelne Waffengattungen in be- ſtimmter und geſchloſſener Reihe vorüberziehen, ſo daß die Eigenthüm- lichkeiten eines jeden Gliedes bemerkt, kritiſch unterſucht und gewürdigt werden können; ſie ſoll uns zeigen, wie dieſe verſchiedenen Gruppen in ihrem Junern geſtaltet, wie dieſe Organismen beſchaffen ſind und in wel- chem Verhältniß dieſe Beſchaffenheit zu derjenigen anderer Gruppen ſteht; ſie ſoll uns die Geſchichte eines jeden klar machen, von ſeiner erſten Entſtehung an bis zu ſeiner Auflöſung in die Elemente; ſie ſoll end- lich die Gräber aufdecken und zeigen, welche Verwandte, welche Ah- nen in unendlichen Generationsfolgen in den Schichten der Erde begra- ben liegen. Es iſt wahrlich nicht die trockene Aufzählung der Thiere und ihrer äußern Merkmale, welche das letzte Ziel der zoologiſchen Wiſſen-
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[5/0011]
Leben friſten könne. Man unterſucht die Structur der Organe, welche
dieſen wunderbaren Thierleib zuſammenſetzen; man vergleicht die gefundene
Organiſation mit derjenigen der bekannteren Thiere, man entdeckt innere
Merkmale, welche geeignet erſcheinen, die mannichfaltigen Formen unter
gemeinſchaftliche Geſichtspunkte unterzuordnen. Die natürlichen Hilfs-
mittel des menſchlichen Körpers genügen zur Forſchung nicht mehr;
man ſchärft die Sehkraft der Augen durch Lupen und Mikroskope und
ſteht erſtaunt vor einer neuen Welt, deren Kleinheit ſie bisher dem
Auge entzog. Unermüdlich und raſtlos dringt man weiter auf den ge-
öffneten Wegen, hier ſuchend und forſchend, dort ordnend und ein-
reihend. Von dem kleinſten Thiere will man wiſſen, wie es entſtehe,
lebe, ſich fortpflanze und zu Grunde gehe; jedes bekannte Geſchöpf will
man neben ſeinen Nachbarn und natürlichen Verwandten einreihen in das
Regiſter, welches nach ſtreng geſetzmäßigen Normen die Namen und deren
Bedeutung aufnimmt. Ein neues Feld eröffnet ſich. In den Tiefen der Erde,
in den Schichten der Felſen hat man eine Menge von verſteinerten
Körpern gefunden, deren Aehnlichkeit mit Schnecken und Muſcheln,
mit Knochen und Gehäuſen ſie anfänglich für Naturſpiele halten läßt,
bis man entdeckt, daß die Reſte untergegangener Schöpfungen hier der
zerſtörenden Kraft von Jahrtauſenden entgangen ſind und daß es
nur der genauen Unterſuchung der jetzt lebenden Thiere bedarf, um
dieſe längſt vernichteten Geſchöpfe vor unſerm geiſtigen Auge wieder
erſtehen zu laſſen und ſie ihren Verwandten näher zu bringen.
Wir ſind an der Aufgabe der heutigen zoologiſchen Wiſſenſchaft
angelangt. Sie ſoll uns die unendliche Mannichfaltigkeit der thieri-
ſchen Formen, welche den Erdball jetzt bevölkern und früher bewohn-
ten, vor die Augen führen; nicht in einem ungeordneten Haufen,
aus dem nur hie und da eine auffallende Geſtalt hervorſieht, ſondern
wie ein wohlgeordnetes Heer, deſſen einzelne Waffengattungen in be-
ſtimmter und geſchloſſener Reihe vorüberziehen, ſo daß die Eigenthüm-
lichkeiten eines jeden Gliedes bemerkt, kritiſch unterſucht und gewürdigt
werden können; ſie ſoll uns zeigen, wie dieſe verſchiedenen Gruppen in
ihrem Junern geſtaltet, wie dieſe Organismen beſchaffen ſind und in wel-
chem Verhältniß dieſe Beſchaffenheit zu derjenigen anderer Gruppen ſteht;
ſie ſoll uns die Geſchichte eines jeden klar machen, von ſeiner erſten
Entſtehung an bis zu ſeiner Auflöſung in die Elemente; ſie ſoll end-
lich die Gräber aufdecken und zeigen, welche Verwandte, welche Ah-
nen in unendlichen Generationsfolgen in den Schichten der Erde begra-
ben liegen. Es iſt wahrlich nicht die trockene Aufzählung der Thiere und
ihrer äußern Merkmale, welche das letzte Ziel der zoologiſchen Wiſſen-
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Vogt, Carl: Zoologische Briefe. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1851, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vogt_briefe01_1851/11>, abgerufen am 04.12.2024.
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