Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1210.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0072" n="1210"/><lb n="pvi_1210.001"/> viel Gespräch eingeflochten wird; es sprechen zwar die Personen im Roman, <lb n="pvi_1210.002"/> aber aus ihnen sichtbar der Poet, der seine Reflexionen an den Mann <lb n="pvi_1210.003"/> bringen will und es dadurch sicher wenigstens dahin bringt, daß man ihm <lb n="pvi_1210.004"/> gar nicht mehr glaubt, es sei ihm Ernst mit dem Erzählen. – Eine andere, <lb n="pvi_1210.005"/> gröbere Form der prosaischen Entmischung ist nun das Ausweichen auf <lb n="pvi_1210.006"/> den historischen Standpunct. Es verbindet sich, wo es auftritt, mit jenem <lb n="pvi_1210.007"/> Ueberschusse der Reflexion; der scheinbare Dichter will sich in beiden Formen <lb n="pvi_1210.008"/> mit dem prosaischen Bewußtsein des Lesers in Vermittlung setzen, durch <lb n="pvi_1210.009"/> die letztere aber speziell gegen Vorwürfe, die aus diesem Bewußtsein kommen, <lb n="pvi_1210.010"/> verwahren und decken: er kann nichts dafür, wenn dieß und das verletzt, <lb n="pvi_1210.011"/> es ist geschehen. Ausdrückliche Versicherungen der historischen Wahrheit, <lb n="pvi_1210.012"/> Vorworte, Randbemerkungen mit statistischen Notizen und Argumenten, <lb n="pvi_1210.013"/> Nachbemerkungen, überflüssig spezielle Data, zu genaue Localisirungen, <lb n="pvi_1210.014"/> Aufnahme einzelner Züge, die ohne poetische Bedeutung sind, aber die <lb n="pvi_1210.015"/> geschichtliche Wahrheit verbürgen sollen: das Alles wirkt zusammen, dafür <lb n="pvi_1210.016"/> zu sorgen, daß ein recht fühlbarer Erdgeschmack, ein recht schwerer Bodensatz <lb n="pvi_1210.017"/> des Stoffartigen zurückbleibe, den kein Schütteln mit dem darüber <lb n="pvi_1210.018"/> schwebenden Spiritus zu amalgamiren vermag. Da bleibt das Ganze tonlos, <lb n="pvi_1210.019"/> da treten die Massen nicht in Fluß, da erklingt nicht der Strom in <lb n="pvi_1210.020"/> jenem Rhythmus, der uns sagt, daß aller Stoff in freien Schein verwandelt <lb n="pvi_1210.021"/> ist, daß wir eine zweite, ideale Welt vor uns haben. Man lese z. B. <lb n="pvi_1210.022"/> jede beliebige Parthie in dem gewiß nicht talentlosen Bulwer, halte sie <lb n="pvi_1210.023"/> neben irgend eine Parthie des Wilh. Meister und höre hin, ob der Unterschied <lb n="pvi_1210.024"/> nicht ist wie zwischen dem Klang von Kupfer und Silber. – Auf <lb n="pvi_1210.025"/> die lyrische Dichtung wollen wir noch nicht näher eingehen; der betreffende <lb n="pvi_1210.026"/> Abschnitt wird zeigen, wie der Lyriker, obwohl er im eigenen Namen <lb n="pvi_1210.027"/> spricht, doch sich in gewissem Sinne zu objectiviren hat, wie nahe es aber <lb n="pvi_1210.028"/> allerdings ihm besonders liegt, sich nackt an das prosaische Bewußtsein zu <lb n="pvi_1210.029"/> wenden. Die Reflexionspoesie ist in diesem Gebiete am meisten zu Hause; <lb n="pvi_1210.030"/> in das Feld der historischen Prosa geräth leicht das erzählende Gedicht in <lb n="pvi_1210.031"/> Volkslied und Kunstpoesie. – Jm Drama ist kein directes Hervortreten <lb n="pvi_1210.032"/> der Person des Dichters möglich, um so näher liegt das subjective Hervorsprechen <lb n="pvi_1210.033"/> aus den nur scheinbar objectiven Charakteren. Schiller hatte schon <lb n="pvi_1210.034"/> große Stufen der Schülerjahre hinter sich, als er im Don Carlos noch <lb n="pvi_1210.035"/> recht in die oberflächlich maskirte Rhetorik des subjectiven Pathos verfiel. <lb n="pvi_1210.036"/> Seine Nachahmer brachten zu demselben Fehler nicht seine große, weltumfassende <lb n="pvi_1210.037"/> Seele mit. Schiller erkannte seine Blöße, nahm seinen Geist in <lb n="pvi_1210.038"/> die Zucht der strengen Realität des geschichtlichen Stoffs und gründete mit <lb n="pvi_1210.039"/> seinem Wallenstein das neuere historisch politische Drama. Aber seine <lb n="pvi_1210.040"/> Nachfolger wußten die Umschmelzung nicht zu dem Puncte zu führen, auf <lb n="pvi_1210.041"/> dem sie trotz so vielen Resten von Dualismus bei Schiller schon angelangt </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1210/0072]
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viel Gespräch eingeflochten wird; es sprechen zwar die Personen im Roman, pvi_1210.002
aber aus ihnen sichtbar der Poet, der seine Reflexionen an den Mann pvi_1210.003
bringen will und es dadurch sicher wenigstens dahin bringt, daß man ihm pvi_1210.004
gar nicht mehr glaubt, es sei ihm Ernst mit dem Erzählen. – Eine andere, pvi_1210.005
gröbere Form der prosaischen Entmischung ist nun das Ausweichen auf pvi_1210.006
den historischen Standpunct. Es verbindet sich, wo es auftritt, mit jenem pvi_1210.007
Ueberschusse der Reflexion; der scheinbare Dichter will sich in beiden Formen pvi_1210.008
mit dem prosaischen Bewußtsein des Lesers in Vermittlung setzen, durch pvi_1210.009
die letztere aber speziell gegen Vorwürfe, die aus diesem Bewußtsein kommen, pvi_1210.010
verwahren und decken: er kann nichts dafür, wenn dieß und das verletzt, pvi_1210.011
es ist geschehen. Ausdrückliche Versicherungen der historischen Wahrheit, pvi_1210.012
Vorworte, Randbemerkungen mit statistischen Notizen und Argumenten, pvi_1210.013
Nachbemerkungen, überflüssig spezielle Data, zu genaue Localisirungen, pvi_1210.014
Aufnahme einzelner Züge, die ohne poetische Bedeutung sind, aber die pvi_1210.015
geschichtliche Wahrheit verbürgen sollen: das Alles wirkt zusammen, dafür pvi_1210.016
zu sorgen, daß ein recht fühlbarer Erdgeschmack, ein recht schwerer Bodensatz pvi_1210.017
des Stoffartigen zurückbleibe, den kein Schütteln mit dem darüber pvi_1210.018
schwebenden Spiritus zu amalgamiren vermag. Da bleibt das Ganze tonlos, pvi_1210.019
da treten die Massen nicht in Fluß, da erklingt nicht der Strom in pvi_1210.020
jenem Rhythmus, der uns sagt, daß aller Stoff in freien Schein verwandelt pvi_1210.021
ist, daß wir eine zweite, ideale Welt vor uns haben. Man lese z. B. pvi_1210.022
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nicht ist wie zwischen dem Klang von Kupfer und Silber. – Auf pvi_1210.025
die lyrische Dichtung wollen wir noch nicht näher eingehen; der betreffende pvi_1210.026
Abschnitt wird zeigen, wie der Lyriker, obwohl er im eigenen Namen pvi_1210.027
spricht, doch sich in gewissem Sinne zu objectiviren hat, wie nahe es aber pvi_1210.028
allerdings ihm besonders liegt, sich nackt an das prosaische Bewußtsein zu pvi_1210.029
wenden. Die Reflexionspoesie ist in diesem Gebiete am meisten zu Hause; pvi_1210.030
in das Feld der historischen Prosa geräth leicht das erzählende Gedicht in pvi_1210.031
Volkslied und Kunstpoesie. – Jm Drama ist kein directes Hervortreten pvi_1210.032
der Person des Dichters möglich, um so näher liegt das subjective Hervorsprechen pvi_1210.033
aus den nur scheinbar objectiven Charakteren. Schiller hatte schon pvi_1210.034
große Stufen der Schülerjahre hinter sich, als er im Don Carlos noch pvi_1210.035
recht in die oberflächlich maskirte Rhetorik des subjectiven Pathos verfiel. pvi_1210.036
Seine Nachahmer brachten zu demselben Fehler nicht seine große, weltumfassende pvi_1210.037
Seele mit. Schiller erkannte seine Blöße, nahm seinen Geist in pvi_1210.038
die Zucht der strengen Realität des geschichtlichen Stoffs und gründete mit pvi_1210.039
seinem Wallenstein das neuere historisch politische Drama. Aber seine pvi_1210.040
Nachfolger wußten die Umschmelzung nicht zu dem Puncte zu führen, auf pvi_1210.041
dem sie trotz so vielen Resten von Dualismus bei Schiller schon angelangt
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