Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1446.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0308" n="1446"/><lb n="pvi_1446.001"/> Auge hat, das auch den andern Standpunct fordert, welcher in die reine <lb n="pvi_1446.002"/> Form den ethischen Ernst einschließt. Es ist im Erhabenen, sagt §. 229, <lb n="pvi_1446.003"/> dem ganzen Schönen ein Unrecht geschehen, indem das Moment der Sinnlichkeit, <lb n="pvi_1446.004"/> Einzelheit, Gegenwärtigkeit negirt wurde; das Komische ist auch <lb n="pvi_1446.005"/> ein Unrecht, indem es die Jdee negirt. Die humoristische Subjectivität <lb n="pvi_1446.006"/> weiß sich als Hort und Bürge der Jdee, nur darum wagt sie, in jeder <lb n="pvi_1446.007"/> Gestalt sie zu verflüchtigen und aufzulösen, aber sie behält sich ebendarum <lb n="pvi_1446.008"/> die wahre Wiederherstellung derselben stets nur vor, ist mit keiner Wirklichkeit <lb n="pvi_1446.009"/> derselben zufrieden, gönnt keiner, sich auszubreiten. Und das ist der <lb n="pvi_1446.010"/> gute, der höchste Fall. Verbirgt sich unter dem substantiösen Pathos der <lb n="pvi_1446.011"/> Tragödie leicht die überschauende Weisheit und den Stoff beherrschende Jronie, <lb n="pvi_1446.012"/> lockt daher diese Dichtart Geister an, die es nie über das Pathologische <lb n="pvi_1446.013"/> bringen, so ist die leichte Luft der Komödie auch das Element für die windigen <lb n="pvi_1446.014"/> Geister, für die leere Subjectivität im sublimeren und im niedrigeren <lb n="pvi_1446.015"/> Sinne: jene kennt nicht den Ausgangspunct vom Ernst im komischen <lb n="pvi_1446.016"/> Prozesse, verflüchtigt geistreich Alles im Schaum des inhaltslosen Spiels, <lb n="pvi_1446.017"/> wie unsere Romantiker es als Prinzip aufgestellt und geübt haben; was <lb n="pvi_1446.018"/> sie noch Stoffartiges bewahrt, ist die reine Grille, die Caprice, die so wenig <lb n="pvi_1446.019"/> komisch, als ernst motivirt ist; diese zerrt an den Lachmuskeln um jeden <lb n="pvi_1446.020"/> Preis und meint, das Komische dürfe gemein sein, weil es sich mit dem <lb n="pvi_1446.021"/> Gemeinen befassen muß. Da verlangt die positive Jdealität des Ernstes <lb n="pvi_1446.022"/> wieder ihr volles Recht und man sehnt sich, daß sie mit dem strengen Antlitz <lb n="pvi_1446.023"/> unter die Narren trete. Shakespeare hat in seiner letzten Periode nur Komödieen <lb n="pvi_1446.024"/> mit besonders starker Grundlage des Ernstes geschrieben: Cymbeline, <lb n="pvi_1446.025"/> Wintermährchen, Sturm, Maaß für Maaß (die gallige Satyre Timon <lb n="pvi_1446.026"/> von Athen nicht zu rechnen); aber, was wichtiger ist, er hat den Hamlet <lb n="pvi_1446.027"/> vollendet, Julius Cäsar, Antonius und Cleopatra, Coriolan, Makbeth, <lb n="pvi_1446.028"/> Othello gedichtet, gedankentief, stahlhart, gedrängt und gesättigt von finsterer <lb n="pvi_1446.029"/> Kraft und furchtbarem Schicksalsgefühle, doch aber ohne die Freiheit des <lb n="pvi_1446.030"/> Gemüths in die Gewalt des Affects zu verlieren und ohne stoffartige Bitterkeit <lb n="pvi_1446.031"/> in der Schlußempfindung.</hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1446/0308]
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Auge hat, das auch den andern Standpunct fordert, welcher in die reine pvi_1446.002
Form den ethischen Ernst einschließt. Es ist im Erhabenen, sagt §. 229, pvi_1446.003
dem ganzen Schönen ein Unrecht geschehen, indem das Moment der Sinnlichkeit, pvi_1446.004
Einzelheit, Gegenwärtigkeit negirt wurde; das Komische ist auch pvi_1446.005
ein Unrecht, indem es die Jdee negirt. Die humoristische Subjectivität pvi_1446.006
weiß sich als Hort und Bürge der Jdee, nur darum wagt sie, in jeder pvi_1446.007
Gestalt sie zu verflüchtigen und aufzulösen, aber sie behält sich ebendarum pvi_1446.008
die wahre Wiederherstellung derselben stets nur vor, ist mit keiner Wirklichkeit pvi_1446.009
derselben zufrieden, gönnt keiner, sich auszubreiten. Und das ist der pvi_1446.010
gute, der höchste Fall. Verbirgt sich unter dem substantiösen Pathos der pvi_1446.011
Tragödie leicht die überschauende Weisheit und den Stoff beherrschende Jronie, pvi_1446.012
lockt daher diese Dichtart Geister an, die es nie über das Pathologische pvi_1446.013
bringen, so ist die leichte Luft der Komödie auch das Element für die windigen pvi_1446.014
Geister, für die leere Subjectivität im sublimeren und im niedrigeren pvi_1446.015
Sinne: jene kennt nicht den Ausgangspunct vom Ernst im komischen pvi_1446.016
Prozesse, verflüchtigt geistreich Alles im Schaum des inhaltslosen Spiels, pvi_1446.017
wie unsere Romantiker es als Prinzip aufgestellt und geübt haben; was pvi_1446.018
sie noch Stoffartiges bewahrt, ist die reine Grille, die Caprice, die so wenig pvi_1446.019
komisch, als ernst motivirt ist; diese zerrt an den Lachmuskeln um jeden pvi_1446.020
Preis und meint, das Komische dürfe gemein sein, weil es sich mit dem pvi_1446.021
Gemeinen befassen muß. Da verlangt die positive Jdealität des Ernstes pvi_1446.022
wieder ihr volles Recht und man sehnt sich, daß sie mit dem strengen Antlitz pvi_1446.023
unter die Narren trete. Shakespeare hat in seiner letzten Periode nur Komödieen pvi_1446.024
mit besonders starker Grundlage des Ernstes geschrieben: Cymbeline, pvi_1446.025
Wintermährchen, Sturm, Maaß für Maaß (die gallige Satyre Timon pvi_1446.026
von Athen nicht zu rechnen); aber, was wichtiger ist, er hat den Hamlet pvi_1446.027
vollendet, Julius Cäsar, Antonius und Cleopatra, Coriolan, Makbeth, pvi_1446.028
Othello gedichtet, gedankentief, stahlhart, gedrängt und gesättigt von finsterer pvi_1446.029
Kraft und furchtbarem Schicksalsgefühle, doch aber ohne die Freiheit des pvi_1446.030
Gemüths in die Gewalt des Affects zu verlieren und ohne stoffartige Bitterkeit pvi_1446.031
in der Schlußempfindung.
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