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Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.

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Schiller (Ueber naive und sentimentale Dichtkunst S. 256 ff.) spricht den pvi_1444.002
Vorzug der Komödie in folgenden Sätzen aus: "die Tragödie fordert das pvi_1444.003
wichtigere Object, die Komödie das wichtigere Subject; dort geschieht schon pvi_1444.004
durch den Gegenstand viel, hier nichts durch ihn und Alles durch den pvi_1444.005
Dichter. Den tragischen Dichter trägt sein Object, der komische muß durch pvi_1444.006
sein Subject das seinige in der ästhetischen Höhe erhalten. Jener darf pvi_1444.007
einen Schwung nehmen, wozu so viel eben nicht gehört, der andere muß pvi_1444.008
sich gleich bleiben, er muß also schon dort sein und dort zu Hause sein, pvi_1444.009
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des schönen und des erhabenen Charakters: dieser ist nur ruckweise und nur pvi_1444.011
mit Anstrengung frei, jener ist es mit Leichtigkeit und immer. - Die Tragödie pvi_1444.012
ist bestimmt, die Gemüthsfreiheit, wenn sie durch einen Affect gewaltsam pvi_1444.013
aufgehoben worden, auf ästhetischem Wege wieder herstellen zu pvi_1444.014
helfen; in ihr muß daher die Gemüthsfreiheit künstlicher Weise und als pvi_1444.015
Experiment aufgehoben werden; in der Komödie dagegen muß verhütet pvi_1444.016
werden, daß es niemals zu jener Aufhebung der Gemüthsfreiheit komme. pvi_1444.017
Daher behandelt der Tragödiendichter seinen Stoff immer praktisch, der Komödieendichter pvi_1444.018
den seinigen immer theoretisch, jener muß sich vor dem ruhigen pvi_1444.019
Räsonnement in Acht nehmen, dieser muß sich vor dem Pathos hüten und pvi_1444.020
immer den Verstand unterhalten; jener zeigt also durch beständige Erregung, pvi_1444.021
dieser durch beständige Abwehrung der Leidenschaft seine Kunst. Das Ziel pvi_1444.022
der Komödie ist einerlei mit dem Höchsten, wonach der Mensch zu ringen pvi_1444.023
hat, frei von Leidenschaft zu sein, immer ruhig um sich und in sich zu pvi_1444.024
schauen, überall mehr Zufall, als Schicksal, zu finden und mehr über Ungereimtheit pvi_1444.025
zu lachen, als über Bosheit zu zürnen oder zu weinen." - pvi_1444.026
Schiller hat nicht bemerkt, daß diese Sätze in Einem Zuge mit der Behauptung pvi_1444.027
auch deren Einschränkung enthalten. - Daß zunächst die Komödie in gewissem pvi_1444.028
Sinn höher steht, folgt für uns prinzipiell aus dem innersten Wesen des pvi_1444.029
Komischen, wie es in der Metaphysik des Schönen entwickelt ist. Das pvi_1444.030
Komische hat sich erwiesen als Act der reinen Freiheit des Selbstbewußtseins, pvi_1444.031
das den Widerspruch, womit alles Erhabene behaftet ist, sich in pvi_1444.032
unendlichem Spiel erzeugt und auflöst. Es enthält also das schlechthin pvi_1444.033
Große, welches eben das Tragische ist, als das eine Moment seines Prozesses pvi_1444.034
in sich, hat somit mehr, ist darüber hinaus. Man kann so zunächst pvi_1444.035
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nämlich, daß der Dichter von der Wucht eines Gesetzes hingenommen sei, pvi_1444.037
das, aus einer Welt aufgewühlter Leidenschaft aufsteigend, furchtbar, obwohl pvi_1444.038
gerecht, durch die Welt geht und keinen Vollgenuß des Lebens, keine subjective pvi_1444.039
Genüge gestattet. Die Leichtigkeit und Freiheit des von dieser Schwere pvi_1444.040
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dem epischen Dichter gefunden haben; es ist das verwandte freie Schweben

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Schiller (Ueber naive und sentimentale Dichtkunst S. 256 ff.) spricht den pvi_1444.002
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[1444/0306] pvi_1444.001 Schiller (Ueber naive und sentimentale Dichtkunst S. 256 ff.) spricht den pvi_1444.002 Vorzug der Komödie in folgenden Sätzen aus: „die Tragödie fordert das pvi_1444.003 wichtigere Object, die Komödie das wichtigere Subject; dort geschieht schon pvi_1444.004 durch den Gegenstand viel, hier nichts durch ihn und Alles durch den pvi_1444.005 Dichter. Den tragischen Dichter trägt sein Object, der komische muß durch pvi_1444.006 sein Subject das seinige in der ästhetischen Höhe erhalten. Jener darf pvi_1444.007 einen Schwung nehmen, wozu so viel eben nicht gehört, der andere muß pvi_1444.008 sich gleich bleiben, er muß also schon dort sein und dort zu Hause sein, pvi_1444.009 wohin der Erstere nicht ohne einen Anlauf gelangt. Es ist der Unterschied pvi_1444.010 des schönen und des erhabenen Charakters: dieser ist nur ruckweise und nur pvi_1444.011 mit Anstrengung frei, jener ist es mit Leichtigkeit und immer. – Die Tragödie pvi_1444.012 ist bestimmt, die Gemüthsfreiheit, wenn sie durch einen Affect gewaltsam pvi_1444.013 aufgehoben worden, auf ästhetischem Wege wieder herstellen zu pvi_1444.014 helfen; in ihr muß daher die Gemüthsfreiheit künstlicher Weise und als pvi_1444.015 Experiment aufgehoben werden; in der Komödie dagegen muß verhütet pvi_1444.016 werden, daß es niemals zu jener Aufhebung der Gemüthsfreiheit komme. pvi_1444.017 Daher behandelt der Tragödiendichter seinen Stoff immer praktisch, der Komödieendichter pvi_1444.018 den seinigen immer theoretisch, jener muß sich vor dem ruhigen pvi_1444.019 Räsonnement in Acht nehmen, dieser muß sich vor dem Pathos hüten und pvi_1444.020 immer den Verstand unterhalten; jener zeigt also durch beständige Erregung, pvi_1444.021 dieser durch beständige Abwehrung der Leidenschaft seine Kunst. Das Ziel pvi_1444.022 der Komödie ist einerlei mit dem Höchsten, wonach der Mensch zu ringen pvi_1444.023 hat, frei von Leidenschaft zu sein, immer ruhig um sich und in sich zu pvi_1444.024 schauen, überall mehr Zufall, als Schicksal, zu finden und mehr über Ungereimtheit pvi_1444.025 zu lachen, als über Bosheit zu zürnen oder zu weinen.“ – pvi_1444.026 Schiller hat nicht bemerkt, daß diese Sätze in Einem Zuge mit der Behauptung pvi_1444.027 auch deren Einschränkung enthalten. – Daß zunächst die Komödie in gewissem pvi_1444.028 Sinn höher steht, folgt für uns prinzipiell aus dem innersten Wesen des pvi_1444.029 Komischen, wie es in der Metaphysik des Schönen entwickelt ist. Das pvi_1444.030 Komische hat sich erwiesen als Act der reinen Freiheit des Selbstbewußtseins, pvi_1444.031 das den Widerspruch, womit alles Erhabene behaftet ist, sich in pvi_1444.032 unendlichem Spiel erzeugt und auflöst. Es enthält also das schlechthin pvi_1444.033 Große, welches eben das Tragische ist, als das eine Moment seines Prozesses pvi_1444.034 in sich, hat somit mehr, ist darüber hinaus. Man kann so zunächst pvi_1444.035 immerhin sagen, das Tragische sei stoffartiger, in dem allgemeinen Sinne pvi_1444.036 nämlich, daß der Dichter von der Wucht eines Gesetzes hingenommen sei, pvi_1444.037 das, aus einer Welt aufgewühlter Leidenschaft aufsteigend, furchtbar, obwohl pvi_1444.038 gerecht, durch die Welt geht und keinen Vollgenuß des Lebens, keine subjective pvi_1444.039 Genüge gestattet. Die Leichtigkeit und Freiheit des von dieser Schwere pvi_1444.040 entbundenen Geistes, der in der Komödie waltet, gleicht jener, die wir bei pvi_1444.041 dem epischen Dichter gefunden haben; es ist das verwandte freie Schweben

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857, S. 1444. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_poetik_1857/306>, abgerufen am 22.11.2024.