Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1437.001
pvi_1437.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0299" n="1437"/><lb n="pvi_1437.001"/> charakteristischen und eines classisch idealen Styles ist daher für die Komödie <lb n="pvi_1437.002"/> ein im engsten Sinne nur relativer und Aristophanes selbst im Vergleiche <lb n="pvi_1437.003"/> mit Sophokles so naturalistisch und individualisirend, als Rembrandt und <lb n="pvi_1437.004"/> Teniers im Vergleiche mit Raphael. Trotz dieser Relativität ist der Styl= <lb n="pvi_1437.005"/> Unterschied vorhanden. Der §. setzt ihn zunächst in die Behandlung des <lb n="pvi_1437.006"/> Charakters. Die Komödie der romanischen Völker hat denselben, wie in <lb n="pvi_1437.007"/> anderem Zusammenhang schon öfters gesagt worden ist, von jeher typisch <lb n="pvi_1437.008"/> behandelt: es sind die Masken=artig scharfgeschnittenen Figuren des zärtlichen <lb n="pvi_1437.009"/> Vaters, gutmüthigen Polterers, schelmischen und dummen Bedienten, <lb n="pvi_1437.010"/> Geizhalses, Charlatans, Hypochondristen, Heuchlers, Jntriguanten, Renommisten, <lb n="pvi_1437.011"/> Biedermanns u. s. w., die in der Schauspielkunst Rollen-Fächer <lb n="pvi_1437.012"/> heißen. Die Typen sind durch ihre Einfachheit schlagend, entschieden ausgeprägt <lb n="pvi_1437.013"/> wie das Bild menschlicher Eigenschaften in den Charakteren der <lb n="pvi_1437.014"/> Thierwelt, aber es sind keine wahren Jndividuen mit der verwickelten, unausmeßbaren <lb n="pvi_1437.015"/> Vielheit von Eigenschaften, die das wirkliche Einzelwesen, so <lb n="pvi_1437.016"/> bestimmt auch Eine Eigenschaft in ihm herrschen mag, charakterisiren. Diese <lb n="pvi_1437.017"/> Richtung des Geistes der romanischen Komödie stammt durch verwandte <lb n="pvi_1437.018"/> Anschauungsweise und wirkliche Nachahmung von der neueren Komödie der <lb n="pvi_1437.019"/> Alten; ihre Charaktere sind die reinen Abkömmlinge der letzteren, und diese, <lb n="pvi_1437.020"/> obwohl sie in anderer Beziehung den Aufgang des charakteristischen Styls <lb n="pvi_1437.021"/> darstellt, ist doch in der Charakterbehandlung auf ihre Art einfach und uncolorirt <lb n="pvi_1437.022"/> wie die Statuen=artigen Gestalten der antiken Tragödie; es sind <lb n="pvi_1437.023"/> ungleich mehr empirische Züge aufgenommen, aber weit nicht so viele, als <lb n="pvi_1437.024"/> der porträt=artige Blick der germanischen Auffassungsweise ergreift und aufnimmt. <lb n="pvi_1437.025"/> Dieß läuft denn schließlich auf den Standpunct des mythischen <lb n="pvi_1437.026"/> Bewußtseins zurück, dem doch auch die neuere Komödie des antiken Theaters <lb n="pvi_1437.027"/> noch angehört: die Gewohnheit, die allgemeinen Grundzüge des Lebens, <lb n="pvi_1437.028"/> herausgehoben aus der Verwicklung des Empirischen, in absoluten Personen <lb n="pvi_1437.029"/> zu objectiviren, wirkt vereinfachend, nur die wesentlichen Züge entwickelnd <lb n="pvi_1437.030"/> auf die Charakterzeichnung in der Kunst. Sie äußert sich aber auch in <lb n="pvi_1437.031"/> der besondern Form: in der Person des Narren, des Hanswursts, der in <lb n="pvi_1437.032"/> der neueren Komödie der Griechen und bestimmter in der römischen schon <lb n="pvi_1437.033"/> auftaucht, im Mittelalter fortlebt und in den Anfängen der modernen <lb n="pvi_1437.034"/> Komödie, wie noch heute im Volkslustspiel, seine große Rolle behauptet. An <lb n="pvi_1437.035"/> dieser Figur kann man recht den Unterschied der Style erkennen, denn im <lb n="pvi_1437.036"/> charakteristischen ist Alles gegenseitig bedingt, die Komik liegt im dialektischen <lb n="pvi_1437.037"/> Zusammenhange des Ganzen und ist an die Einzelnen nach Maaßgabe <lb n="pvi_1437.038"/> ihres motivirten Verhältnisses zu der Handlung vertheilt, der Narr dagegen <lb n="pvi_1437.039"/> hat in der Handlung nur eine scheinbare Rolle und ist eigentlich die Persongewordene, <lb n="pvi_1437.040"/> für sich herausgestellte Komik des Ganzen, ein komischer Gott. <lb n="pvi_1437.041"/> Neben ihm treten in der italienischen Volkskomödie, wo er wirklich auch </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1437/0299]
pvi_1437.001
charakteristischen und eines classisch idealen Styles ist daher für die Komödie pvi_1437.002
ein im engsten Sinne nur relativer und Aristophanes selbst im Vergleiche pvi_1437.003
mit Sophokles so naturalistisch und individualisirend, als Rembrandt und pvi_1437.004
Teniers im Vergleiche mit Raphael. Trotz dieser Relativität ist der Styl= pvi_1437.005
Unterschied vorhanden. Der §. setzt ihn zunächst in die Behandlung des pvi_1437.006
Charakters. Die Komödie der romanischen Völker hat denselben, wie in pvi_1437.007
anderem Zusammenhang schon öfters gesagt worden ist, von jeher typisch pvi_1437.008
behandelt: es sind die Masken=artig scharfgeschnittenen Figuren des zärtlichen pvi_1437.009
Vaters, gutmüthigen Polterers, schelmischen und dummen Bedienten, pvi_1437.010
Geizhalses, Charlatans, Hypochondristen, Heuchlers, Jntriguanten, Renommisten, pvi_1437.011
Biedermanns u. s. w., die in der Schauspielkunst Rollen-Fächer pvi_1437.012
heißen. Die Typen sind durch ihre Einfachheit schlagend, entschieden ausgeprägt pvi_1437.013
wie das Bild menschlicher Eigenschaften in den Charakteren der pvi_1437.014
Thierwelt, aber es sind keine wahren Jndividuen mit der verwickelten, unausmeßbaren pvi_1437.015
Vielheit von Eigenschaften, die das wirkliche Einzelwesen, so pvi_1437.016
bestimmt auch Eine Eigenschaft in ihm herrschen mag, charakterisiren. Diese pvi_1437.017
Richtung des Geistes der romanischen Komödie stammt durch verwandte pvi_1437.018
Anschauungsweise und wirkliche Nachahmung von der neueren Komödie der pvi_1437.019
Alten; ihre Charaktere sind die reinen Abkömmlinge der letzteren, und diese, pvi_1437.020
obwohl sie in anderer Beziehung den Aufgang des charakteristischen Styls pvi_1437.021
darstellt, ist doch in der Charakterbehandlung auf ihre Art einfach und uncolorirt pvi_1437.022
wie die Statuen=artigen Gestalten der antiken Tragödie; es sind pvi_1437.023
ungleich mehr empirische Züge aufgenommen, aber weit nicht so viele, als pvi_1437.024
der porträt=artige Blick der germanischen Auffassungsweise ergreift und aufnimmt. pvi_1437.025
Dieß läuft denn schließlich auf den Standpunct des mythischen pvi_1437.026
Bewußtseins zurück, dem doch auch die neuere Komödie des antiken Theaters pvi_1437.027
noch angehört: die Gewohnheit, die allgemeinen Grundzüge des Lebens, pvi_1437.028
herausgehoben aus der Verwicklung des Empirischen, in absoluten Personen pvi_1437.029
zu objectiviren, wirkt vereinfachend, nur die wesentlichen Züge entwickelnd pvi_1437.030
auf die Charakterzeichnung in der Kunst. Sie äußert sich aber auch in pvi_1437.031
der besondern Form: in der Person des Narren, des Hanswursts, der in pvi_1437.032
der neueren Komödie der Griechen und bestimmter in der römischen schon pvi_1437.033
auftaucht, im Mittelalter fortlebt und in den Anfängen der modernen pvi_1437.034
Komödie, wie noch heute im Volkslustspiel, seine große Rolle behauptet. An pvi_1437.035
dieser Figur kann man recht den Unterschied der Style erkennen, denn im pvi_1437.036
charakteristischen ist Alles gegenseitig bedingt, die Komik liegt im dialektischen pvi_1437.037
Zusammenhange des Ganzen und ist an die Einzelnen nach Maaßgabe pvi_1437.038
ihres motivirten Verhältnisses zu der Handlung vertheilt, der Narr dagegen pvi_1437.039
hat in der Handlung nur eine scheinbare Rolle und ist eigentlich die Persongewordene, pvi_1437.040
für sich herausgestellte Komik des Ganzen, ein komischer Gott. pvi_1437.041
Neben ihm treten in der italienischen Volkskomödie, wo er wirklich auch
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |