Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1377.001
pvi_1377.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0239" n="1377"/><lb n="pvi_1377.001"/> Dramatischen im Keim enthält. Das Drama gehört daher wie die Lyrik <lb n="pvi_1377.002"/> zunächst der Zeitbestimmung der Gegenwart an. Von der sinnlich sichtbaren <lb n="pvi_1377.003"/> Vergegenwärtigung durch Theater und Schauspielkunst abstrahiren <lb n="pvi_1377.004"/> wir aber noch ganz; es ist hier, wie durchaus im Folgenden, immer nur <lb n="pvi_1377.005"/> von der Vergegenwärtigung für das innere Schauen die Rede, das allerdings <lb n="pvi_1377.006"/> weiterhin das Bedürfniß des äußern mit sich führt; aber erst der Anhang <lb n="pvi_1377.007"/> von der Mimik wird diese Seite aufnehmen. – Jn der Aufzeigung des <lb n="pvi_1377.008"/> epischen Elements der Objectivität, wie es im Drama erhalten ist, durfte <lb n="pvi_1377.009"/> sogleich die Vielheit der Personen, durch die der Dichter spricht, nicht übergangen <lb n="pvi_1377.010"/> werden; die erzählende Form der lyrischen Dichtung kann, wenn <lb n="pvi_1377.011"/> sie sich durch dialogische Behandlung dem Drama nähert, kaum über zwei <lb n="pvi_1377.012"/> Personen sprechen lassen; der Kreis, in den sich der gedrungne Kern der <lb n="pvi_1377.013"/> Empfindung umsetzen und verkleiden kann, ist eng gezogen. Das weitere <lb n="pvi_1377.014"/> epische Moment ist das Fortrücken in der Succession der Zeit; die lyrische <lb n="pvi_1377.015"/> Stimmung hat auch ihren Verlauf, bleibt aber doch punctuell, bewegt sich <lb n="pvi_1377.016"/> nur in sich, nicht ernstlich hinaus in die Dinge, an denen wir die Zeit <lb n="pvi_1377.017"/> messen; wirklicher, erfüllter Zeitverlauf ist nur im Elemente des äußeren <lb n="pvi_1377.018"/> Geschehens und Handelns. Das Jnnere, indem es sich ausspricht und <lb n="pvi_1377.019"/> fortrückt, erschließt sich also zugleich zur Veränderung der Außenwelt, die <lb n="pvi_1377.020"/> Wirkung ruft die Gegenwirkung hervor und es entsteht eine Handlung; <lb n="pvi_1377.021"/> so mußten wir auch den Jnhalt des Epos nennen, so lange wir das Wort <lb n="pvi_1377.022"/> nicht in seinem strengsten Sinne nahmen. Die handelnden Personen in <lb n="pvi_1377.023"/> ihrer Vielheit und der nothwendig mitgesetzte Complex umgebender physischer <lb n="pvi_1377.024"/> Welt und realer Verhältnisse der moralischen bedingen nun den größeren <lb n="pvi_1377.025"/> Umfang, das umfassendere Bild des Lebens, wodurch das Drama wie das <lb n="pvi_1377.026"/> Epos von dem Mikrokosmus des Lyrischen sich unterscheidet. Daß dieses <lb n="pvi_1377.027"/> Weltbild der innern Anschauung sich darbiete, wie im Epos, dafür muß <lb n="pvi_1377.028"/> der Dichter irgendwie sorgen; von der Art, wodurch er dieß bewerkstelligt, <lb n="pvi_1377.029"/> ist jedoch abzusehen, so lange man den Unterschied vom Epischen, der freilich <lb n="pvi_1377.030"/> gerade hier tief und durchschneidend ist, nicht in Betrachtung zieht. – <lb n="pvi_1377.031"/> Es unterliegen aber beide Elemente, das lyrische und epische, indem sie sich <lb n="pvi_1377.032"/> zu einem Dritten verschmelzen, nothwendig einer wesentlichen Veränderung <lb n="pvi_1377.033"/> und wir müssen dieselbe zuerst in ihrem prinzipiellen Mittelpunct erfassen. <lb n="pvi_1377.034"/> Wenn der Dichter sich in Personen verwandelt, welche so sprechen, daß <lb n="pvi_1377.035"/> daraus eine Veränderung der Außenwelt, eine Handlung sich ergibt, so <lb n="pvi_1377.036"/> kann das Jnnere dieser Personen nicht mehr das in Gefühl versenkte des <lb n="pvi_1377.037"/> Lyrikers sein: es muß die Objecte und sich selbst mit hellem Bewußtsein <lb n="pvi_1377.038"/> ergreifen und sich frei als Wille aus sich entscheiden. Der dramatische <lb n="pvi_1377.039"/> Mensch ist aber auch nicht mehr der zuständliche im Sinne des epischen <lb n="pvi_1377.040"/> Charakters, der zwar handelt, jedoch geführt und getrieben von seinem Naturell, <lb n="pvi_1377.041"/> von der Sitte, von dem, was als treibende Kraft in den Massen waltet. </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1377/0239]
pvi_1377.001
Dramatischen im Keim enthält. Das Drama gehört daher wie die Lyrik pvi_1377.002
zunächst der Zeitbestimmung der Gegenwart an. Von der sinnlich sichtbaren pvi_1377.003
Vergegenwärtigung durch Theater und Schauspielkunst abstrahiren pvi_1377.004
wir aber noch ganz; es ist hier, wie durchaus im Folgenden, immer nur pvi_1377.005
von der Vergegenwärtigung für das innere Schauen die Rede, das allerdings pvi_1377.006
weiterhin das Bedürfniß des äußern mit sich führt; aber erst der Anhang pvi_1377.007
von der Mimik wird diese Seite aufnehmen. – Jn der Aufzeigung des pvi_1377.008
epischen Elements der Objectivität, wie es im Drama erhalten ist, durfte pvi_1377.009
sogleich die Vielheit der Personen, durch die der Dichter spricht, nicht übergangen pvi_1377.010
werden; die erzählende Form der lyrischen Dichtung kann, wenn pvi_1377.011
sie sich durch dialogische Behandlung dem Drama nähert, kaum über zwei pvi_1377.012
Personen sprechen lassen; der Kreis, in den sich der gedrungne Kern der pvi_1377.013
Empfindung umsetzen und verkleiden kann, ist eng gezogen. Das weitere pvi_1377.014
epische Moment ist das Fortrücken in der Succession der Zeit; die lyrische pvi_1377.015
Stimmung hat auch ihren Verlauf, bleibt aber doch punctuell, bewegt sich pvi_1377.016
nur in sich, nicht ernstlich hinaus in die Dinge, an denen wir die Zeit pvi_1377.017
messen; wirklicher, erfüllter Zeitverlauf ist nur im Elemente des äußeren pvi_1377.018
Geschehens und Handelns. Das Jnnere, indem es sich ausspricht und pvi_1377.019
fortrückt, erschließt sich also zugleich zur Veränderung der Außenwelt, die pvi_1377.020
Wirkung ruft die Gegenwirkung hervor und es entsteht eine Handlung; pvi_1377.021
so mußten wir auch den Jnhalt des Epos nennen, so lange wir das Wort pvi_1377.022
nicht in seinem strengsten Sinne nahmen. Die handelnden Personen in pvi_1377.023
ihrer Vielheit und der nothwendig mitgesetzte Complex umgebender physischer pvi_1377.024
Welt und realer Verhältnisse der moralischen bedingen nun den größeren pvi_1377.025
Umfang, das umfassendere Bild des Lebens, wodurch das Drama wie das pvi_1377.026
Epos von dem Mikrokosmus des Lyrischen sich unterscheidet. Daß dieses pvi_1377.027
Weltbild der innern Anschauung sich darbiete, wie im Epos, dafür muß pvi_1377.028
der Dichter irgendwie sorgen; von der Art, wodurch er dieß bewerkstelligt, pvi_1377.029
ist jedoch abzusehen, so lange man den Unterschied vom Epischen, der freilich pvi_1377.030
gerade hier tief und durchschneidend ist, nicht in Betrachtung zieht. – pvi_1377.031
Es unterliegen aber beide Elemente, das lyrische und epische, indem sie sich pvi_1377.032
zu einem Dritten verschmelzen, nothwendig einer wesentlichen Veränderung pvi_1377.033
und wir müssen dieselbe zuerst in ihrem prinzipiellen Mittelpunct erfassen. pvi_1377.034
Wenn der Dichter sich in Personen verwandelt, welche so sprechen, daß pvi_1377.035
daraus eine Veränderung der Außenwelt, eine Handlung sich ergibt, so pvi_1377.036
kann das Jnnere dieser Personen nicht mehr das in Gefühl versenkte des pvi_1377.037
Lyrikers sein: es muß die Objecte und sich selbst mit hellem Bewußtsein pvi_1377.038
ergreifen und sich frei als Wille aus sich entscheiden. Der dramatische pvi_1377.039
Mensch ist aber auch nicht mehr der zuständliche im Sinne des epischen pvi_1377.040
Charakters, der zwar handelt, jedoch geführt und getrieben von seinem Naturell, pvi_1377.041
von der Sitte, von dem, was als treibende Kraft in den Massen waltet.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |