Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1371.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0233" n="1371"/><lb n="pvi_1371.001"/> wohl fühlt, daß sie zu schön ist, um zu bleiben. Der elegische Ton liegt <lb n="pvi_1371.002"/> daher im Ganzen, auch wo er sich nicht direct ausspricht, er tritt aber <lb n="pvi_1371.003"/> doch auch wirklich und sogar herrschend hervor und kann als das Bezeichnende <lb n="pvi_1371.004"/> der indischen Lyrik angesehen werden. Jhre schönsten Erzeugnisse <lb n="pvi_1371.005"/> sind eigentlich elegisch; das herrliche Gedicht: die Jahreszeiten ist mit Mahnungen <lb n="pvi_1371.006"/> an die Flüchtigkeit des schönen Augenblicks durchzogen; sehnsuchtvolle <lb n="pvi_1371.007"/> Liebesklage ist der beliebteste Ton, der sich mit dem wunderbar träumerischen <lb n="pvi_1371.008"/> Naturgefühle vereinigt und seinen ergreifendsten, reichsten Ausdruck <lb n="pvi_1371.009"/> in dem Wolkenboten von Kalidasas gefunden hat. Mit dem Elegischen <lb n="pvi_1371.010"/> tief verwandt ist das Jdyllische, wie sich aus der Erörterung desselben <lb n="pvi_1371.011"/> (§. 874. 883) ergibt; man kann es die epische Elegie nennen, denn indem <lb n="pvi_1371.012"/> der idyllische Dichter das schöne Bild naturvollen Menschenlebens in der <lb n="pvi_1371.013"/> ländlichen Stille aufsuchen muß, gesteht er dessen Flüchtigkeit; das Jdeal <lb n="pvi_1371.014"/> ist noch da, aber nur eben noch da, wird eben noch ferner vom großen <lb n="pvi_1371.015"/> Menschengetümmel aufgefunden und erhascht. Mit richtigem Sinne stellt <lb n="pvi_1371.016"/> daher Schiller (a. a. O.) Elegie und Jdylle nebeneinander. So knüpft <lb n="pvi_1371.017"/> sich denn das Elegische an ein idyllisches Motiv in dem anmuthvollen <lb n="pvi_1371.018"/> indischen Gedichte Gitagowinda, das die Liebe des Krishna zu der Hirtinn <lb n="pvi_1371.019"/> Radha besingt. Es fehlt jedoch in dieser Poesie auch an Sprüchen der <lb n="pvi_1371.020"/> Erfahrung und Lebensweisheit nicht, die dem Elemente der Betrachtung, <lb n="pvi_1371.021"/> freilich ohne die ethische Sammlung des classischen Occidents, noch mehr <lb n="pvi_1371.022"/> ohne die concentrirte Jnnerlichkeit der neueren germanischen Zeit, im elegischen <lb n="pvi_1371.023"/> Elemente sein Recht sichern. Voranstellen aber mußten wir hier die <lb n="pvi_1371.024"/> Form, die am deutlichsten den Begriff darstellt. – Trotz dem großen Sprunge <lb n="pvi_1371.025"/> ist es nur natürlich, an die Seite der indischen die <hi rendition="#g">muhamedanische</hi> <lb n="pvi_1371.026"/> Lyrik zu ziehen, wie sie im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert ihre <lb n="pvi_1371.027"/> höchste Blüthe in <hi rendition="#g">Persien</hi> getrieben hat. Der Pantheismus, der in der <lb n="pvi_1371.028"/> indischen Poesie noch trunkenes Naturgefühl war, ist hier durch reiche Vermittlungswege <lb n="pvi_1371.029"/> so durchgebildet, daß er sich mit vollem und ausgesprochenem <lb n="pvi_1371.030"/> mystischem Bewußtsein in den Genuß des Einzelnen versenken kann; Dschelaleddin <lb n="pvi_1371.031"/> Rumi stellt die reine Mystik, Saadi den Uebergang zur Einlebung <lb n="pvi_1371.032"/> derselben in das Gefühl des sinnlichen Augenblicks, Hafis die reine und <lb n="pvi_1371.033"/> ungetheilte Versenkung dar. Hier hat sich das Gemüth von jeder Fessel <lb n="pvi_1371.034"/> der Scheinwelt losgemacht, in das ewig Eine hingegeben und ist völlig <lb n="pvi_1371.035"/> frei von jeder besonderen Bestimmtheit, heiter in der Bedürfnißlosigkeit des <lb n="pvi_1371.036"/> Derwisch, gepäcklos wie Diogenes. Das ewig Eine ist aber auch in jedem <lb n="pvi_1371.037"/> Wirklichen gegenwärtig; dem freien Gemüthe steht es ganz frei, sich in eine <lb n="pvi_1371.038"/> Form seiner Realität, wie in seine gestaltlose Unendlichkeit, aufzulösen, und <lb n="pvi_1371.039"/> es wird diejenige Form wählen, welche durch Hingabe des Jch an ein <lb n="pvi_1371.040"/> zweites oder an die Tiefen des Naturgeistes ein sinnliches Symbol desselben <lb n="pvi_1371.041"/> Wegs ist, wie er in Ascese und Speculation vollzogen wird. Jn seeligem </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1371/0233]
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wohl fühlt, daß sie zu schön ist, um zu bleiben. Der elegische Ton liegt pvi_1371.002
daher im Ganzen, auch wo er sich nicht direct ausspricht, er tritt aber pvi_1371.003
doch auch wirklich und sogar herrschend hervor und kann als das Bezeichnende pvi_1371.004
der indischen Lyrik angesehen werden. Jhre schönsten Erzeugnisse pvi_1371.005
sind eigentlich elegisch; das herrliche Gedicht: die Jahreszeiten ist mit Mahnungen pvi_1371.006
an die Flüchtigkeit des schönen Augenblicks durchzogen; sehnsuchtvolle pvi_1371.007
Liebesklage ist der beliebteste Ton, der sich mit dem wunderbar träumerischen pvi_1371.008
Naturgefühle vereinigt und seinen ergreifendsten, reichsten Ausdruck pvi_1371.009
in dem Wolkenboten von Kalidasas gefunden hat. Mit dem Elegischen pvi_1371.010
tief verwandt ist das Jdyllische, wie sich aus der Erörterung desselben pvi_1371.011
(§. 874. 883) ergibt; man kann es die epische Elegie nennen, denn indem pvi_1371.012
der idyllische Dichter das schöne Bild naturvollen Menschenlebens in der pvi_1371.013
ländlichen Stille aufsuchen muß, gesteht er dessen Flüchtigkeit; das Jdeal pvi_1371.014
ist noch da, aber nur eben noch da, wird eben noch ferner vom großen pvi_1371.015
Menschengetümmel aufgefunden und erhascht. Mit richtigem Sinne stellt pvi_1371.016
daher Schiller (a. a. O.) Elegie und Jdylle nebeneinander. So knüpft pvi_1371.017
sich denn das Elegische an ein idyllisches Motiv in dem anmuthvollen pvi_1371.018
indischen Gedichte Gitagowinda, das die Liebe des Krishna zu der Hirtinn pvi_1371.019
Radha besingt. Es fehlt jedoch in dieser Poesie auch an Sprüchen der pvi_1371.020
Erfahrung und Lebensweisheit nicht, die dem Elemente der Betrachtung, pvi_1371.021
freilich ohne die ethische Sammlung des classischen Occidents, noch mehr pvi_1371.022
ohne die concentrirte Jnnerlichkeit der neueren germanischen Zeit, im elegischen pvi_1371.023
Elemente sein Recht sichern. Voranstellen aber mußten wir hier die pvi_1371.024
Form, die am deutlichsten den Begriff darstellt. – Trotz dem großen Sprunge pvi_1371.025
ist es nur natürlich, an die Seite der indischen die muhamedanische pvi_1371.026
Lyrik zu ziehen, wie sie im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert ihre pvi_1371.027
höchste Blüthe in Persien getrieben hat. Der Pantheismus, der in der pvi_1371.028
indischen Poesie noch trunkenes Naturgefühl war, ist hier durch reiche Vermittlungswege pvi_1371.029
so durchgebildet, daß er sich mit vollem und ausgesprochenem pvi_1371.030
mystischem Bewußtsein in den Genuß des Einzelnen versenken kann; Dschelaleddin pvi_1371.031
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derselben in das Gefühl des sinnlichen Augenblicks, Hafis die reine und pvi_1371.033
ungetheilte Versenkung dar. Hier hat sich das Gemüth von jeder Fessel pvi_1371.034
der Scheinwelt losgemacht, in das ewig Eine hingegeben und ist völlig pvi_1371.035
frei von jeder besonderen Bestimmtheit, heiter in der Bedürfnißlosigkeit des pvi_1371.036
Derwisch, gepäcklos wie Diogenes. Das ewig Eine ist aber auch in jedem pvi_1371.037
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zweites oder an die Tiefen des Naturgeistes ein sinnliches Symbol desselben pvi_1371.041
Wegs ist, wie er in Ascese und Speculation vollzogen wird. Jn seeligem
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