Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1366.001 4. Es versteht sich, daß die hier aufgeführten Formen, das rein objective pvi_1366.033
pvi_1366.001 4. Es versteht sich, daß die hier aufgeführten Formen, das rein objective pvi_1366.033 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0228" n="1366"/><lb n="pvi_1366.001"/> entstehen. Der Styl-Unterschied, wie er historisch auf Nationalitäten zurückführt, <lb n="pvi_1366.002"/> ist es also, was entscheidet, nicht der Jnhalt. Für's Zweite: es ist <lb n="pvi_1366.003"/> umgekehrt in dem Style, welcher mit herkömmlicher nationaler Beziehung <lb n="pvi_1366.004"/> den Namen der Romanze führt, viel finster blutiger, nächtlicher Stoff <lb n="pvi_1366.005"/> behandelt und man kann nur sagen, der dunkle, liederartig bewegte Styl <lb n="pvi_1366.006"/> verbinde sich lieber und naturgemäßer dem düstern Jnhalte, der lichte dem <lb n="pvi_1366.007"/> klaren und freien, wie denn dieß auch der Stimmungs-Unterschied der <lb n="pvi_1366.008"/> Völker ist, von denen beide Style ausgiengen, es sei dieß aber nicht nothwendig. <lb n="pvi_1366.009"/> Auch ganz sittlich lichter Jnhalt kann in Balladenstyl behandelt <lb n="pvi_1366.010"/> werden; der Ton in Göthe's Gott und Bajadere hat so ganz den tief erzitternden <lb n="pvi_1366.011"/> Charakter, daß wir dieses Gedicht nimmermehr Romanze nennen <lb n="pvi_1366.012"/> könnten, und der Jnhalt gehört doch unzweifelhaft der sittlichen Lichtwelt an. <lb n="pvi_1366.013"/> Echtermayer hat, dieß ist die dritte und wichtigste Einwendung, bei dem, <lb n="pvi_1366.014"/> was er als Jnhalt der Romanze bestimmt, durchaus Schiller's philosophisch <lb n="pvi_1366.015"/> gebildetes Bewußtsein im Auge gehabt und stoffartig auf den ethischen <lb n="pvi_1366.016"/> Werth der Jdee der Freiheit gesehen. Das Wahre ist, daß, je durchsichtiger <lb n="pvi_1366.017"/> solches sittliches Bewußtsein, desto schwerer es wird, sowohl eine ächte <lb n="pvi_1366.018"/> Romanze, als eine ächte Ballade zu dichten. Das Gefühl ist in der <lb n="pvi_1366.019"/> Romanze heller, als in der Ballade, aber nicht so gedankenhaft durcharbeitet. <lb n="pvi_1366.020"/> Für den ästhetischen Maaßstab ist diejenige Bildung des modernen <lb n="pvi_1366.021"/> Dichters die höchste, die von dem zu hellen Lichte ihres Selbstbewußtseins <lb n="pvi_1366.022"/> sich in die dämmernden Stimmungen umsetzen kann, aus welchen die ächte <lb n="pvi_1366.023"/> Romanze, noch mehr die ächte Ballade hervorgeht. Die bedeutendsten <lb n="pvi_1366.024"/> Producte der neueren erzählenden Poesie sind Balladen, vor Allem die <lb n="pvi_1366.025"/> Göthe'schen. – Echtermayer hat eine dritte, mittlere Form aufgestellt, die <lb n="pvi_1366.026"/> er Mähre oder Rhapsodie nennt und welcher er als Jnhalt die Heldenwelt <lb n="pvi_1366.027"/> zuweist, wie sich durch sie die Völker in energischer That von ihrer ersten <lb n="pvi_1366.028"/> dunkeln Unmittelbarkeit befreien: eine ursprüngliche Kraft, die schon in die <lb n="pvi_1366.029"/> Licht- und Tagesseite des Geistes, in die Geschichte, hereinragt. Uhland's <lb n="pvi_1366.030"/> vaterländische Balladen namentlich würden in diese Gattung fallen und es <lb n="pvi_1366.031"/> erscheint zweckmäßig, sie aufzustellen.</hi> </p> <lb n="pvi_1366.032"/> <p> <hi rendition="#et"> 4. Es versteht sich, daß die hier aufgeführten Formen, das rein objective <lb n="pvi_1366.033"/> Sitten- und Naturbild ausgenommen, ihren ursprünglichen Boden <lb n="pvi_1366.034"/> recht in der Volkspoesie haben, vor Allem aber Ballade und Romanze. <lb n="pvi_1366.035"/> Hier vorzüglich ist die Stelle, wo die Kunstpoesie neues, ächt lyrisches Leben <lb n="pvi_1366.036"/> aus ihr getrunken hat. Nachdem aber diese Verjüngung vor sich gegangen <lb n="pvi_1366.037"/> war, mußte eine episch lyrische Kunstpoesie möglich werden, die den ächt <lb n="pvi_1366.038"/> lyrischen Ton einhält und doch in der ganzen Behandlung zeigt, daß ebensosehr <lb n="pvi_1366.039"/> die classische Bildung auf uns eingewirkt hat, die aber darum nicht <lb n="pvi_1366.040"/> zu der allzu lichten und glänzenden Beredtsamkeit fortgeht, welche einmal <lb n="pvi_1366.041"/> unlyrisch ist; diese Art episch lyrischer Gedichte entzieht sich am meisten der </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1366/0228]
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entstehen. Der Styl-Unterschied, wie er historisch auf Nationalitäten zurückführt, pvi_1366.002
ist es also, was entscheidet, nicht der Jnhalt. Für's Zweite: es ist pvi_1366.003
umgekehrt in dem Style, welcher mit herkömmlicher nationaler Beziehung pvi_1366.004
den Namen der Romanze führt, viel finster blutiger, nächtlicher Stoff pvi_1366.005
behandelt und man kann nur sagen, der dunkle, liederartig bewegte Styl pvi_1366.006
verbinde sich lieber und naturgemäßer dem düstern Jnhalte, der lichte dem pvi_1366.007
klaren und freien, wie denn dieß auch der Stimmungs-Unterschied der pvi_1366.008
Völker ist, von denen beide Style ausgiengen, es sei dieß aber nicht nothwendig. pvi_1366.009
Auch ganz sittlich lichter Jnhalt kann in Balladenstyl behandelt pvi_1366.010
werden; der Ton in Göthe's Gott und Bajadere hat so ganz den tief erzitternden pvi_1366.011
Charakter, daß wir dieses Gedicht nimmermehr Romanze nennen pvi_1366.012
könnten, und der Jnhalt gehört doch unzweifelhaft der sittlichen Lichtwelt an. pvi_1366.013
Echtermayer hat, dieß ist die dritte und wichtigste Einwendung, bei dem, pvi_1366.014
was er als Jnhalt der Romanze bestimmt, durchaus Schiller's philosophisch pvi_1366.015
gebildetes Bewußtsein im Auge gehabt und stoffartig auf den ethischen pvi_1366.016
Werth der Jdee der Freiheit gesehen. Das Wahre ist, daß, je durchsichtiger pvi_1366.017
solches sittliches Bewußtsein, desto schwerer es wird, sowohl eine ächte pvi_1366.018
Romanze, als eine ächte Ballade zu dichten. Das Gefühl ist in der pvi_1366.019
Romanze heller, als in der Ballade, aber nicht so gedankenhaft durcharbeitet. pvi_1366.020
Für den ästhetischen Maaßstab ist diejenige Bildung des modernen pvi_1366.021
Dichters die höchste, die von dem zu hellen Lichte ihres Selbstbewußtseins pvi_1366.022
sich in die dämmernden Stimmungen umsetzen kann, aus welchen die ächte pvi_1366.023
Romanze, noch mehr die ächte Ballade hervorgeht. Die bedeutendsten pvi_1366.024
Producte der neueren erzählenden Poesie sind Balladen, vor Allem die pvi_1366.025
Göthe'schen. – Echtermayer hat eine dritte, mittlere Form aufgestellt, die pvi_1366.026
er Mähre oder Rhapsodie nennt und welcher er als Jnhalt die Heldenwelt pvi_1366.027
zuweist, wie sich durch sie die Völker in energischer That von ihrer ersten pvi_1366.028
dunkeln Unmittelbarkeit befreien: eine ursprüngliche Kraft, die schon in die pvi_1366.029
Licht- und Tagesseite des Geistes, in die Geschichte, hereinragt. Uhland's pvi_1366.030
vaterländische Balladen namentlich würden in diese Gattung fallen und es pvi_1366.031
erscheint zweckmäßig, sie aufzustellen.
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4. Es versteht sich, daß die hier aufgeführten Formen, das rein objective pvi_1366.033
Sitten- und Naturbild ausgenommen, ihren ursprünglichen Boden pvi_1366.034
recht in der Volkspoesie haben, vor Allem aber Ballade und Romanze. pvi_1366.035
Hier vorzüglich ist die Stelle, wo die Kunstpoesie neues, ächt lyrisches Leben pvi_1366.036
aus ihr getrunken hat. Nachdem aber diese Verjüngung vor sich gegangen pvi_1366.037
war, mußte eine episch lyrische Kunstpoesie möglich werden, die den ächt pvi_1366.038
lyrischen Ton einhält und doch in der ganzen Behandlung zeigt, daß ebensosehr pvi_1366.039
die classische Bildung auf uns eingewirkt hat, die aber darum nicht pvi_1366.040
zu der allzu lichten und glänzenden Beredtsamkeit fortgeht, welche einmal pvi_1366.041
unlyrisch ist; diese Art episch lyrischer Gedichte entzieht sich am meisten der
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